Gibt es ein «ursprünglicheres» Selbst?

G

Die westliche Psychologie orientiert sich am Individuum, ihre Selbstkonzepte beziehen sich daher auf das individuelle Selbst. Das östliche Denken fasst den Selbstbegriff weiter. Die upanishadischen Seher Indiens haben bereits um etwa 700 vor Christus eine Selbstphilosophie entwickelt. Ihr Selbstbegriff ist Atman, der innerste Kern unseres individuellen Wesens wie auch des Kosmos.

Bevor wir mit diesem Selbst in Berührung kommen, müssen wir Individuen werden, indem wir uns von der gesellschaftlichen Kollektivprägung lösen. In einem weiteren Schritt geht es dann aber auch darum, die Identifikation mit unserer Ich-Persönlichkeit, mit unserem Denken, Fühlen, Wollen und Begehren, abzulegen. Erst dann ist Atman, das eigentliche Selbst in brahmanischer Sicht, in der Transzendenz erfahrbar. 

Da nach indischer Auffassung Atman auch mit Brahman, dem schöpferischen Prinzip, der Weltenseele, identisch ist, befinden wir uns in nächster Nähe zu den Mystikern aller Zeiten, nicht zuletzt zu Meister ECKHART, der diese Selbstentäusserung ins Grosse, das Aufgehen in Gott, folgendermassen beschreibt:
«Du sollst allzumal entsinken deiner Deinesheit und sollst zerfliessen in seine Seinsheit und soll dein Dein in seinem Mein ein Mein werden also gänzlich, dass du mit ihm verstehest ewiglich seine ungewordene Istigkeit und seine ungenannte Nichtheit.» 

Vergleichen wir die Grundeinstellung der Psychologie mit diesen jahrtausendealten spirituellen Erfahrungen in bezug auf das Selbst, so resultieren Widersprüche, die in diametral entgegengesetzten Zielen zum Ausdruck kommen.

Konträr bewertete, spirituelle Eigenschaften

Eigenschaften, die im Zusammenhang mit der spirituellen Erfahrung als erstrebenswert angesehen werden, werden im Kontext der Psychopathologie als neurotisch, ja psychotisch beurteilt. Damit befinden wir uns in einer Grundsatzdiskussion über den Selbstbegriff und die Gültigkeit der Innenschau im Sinne östlicher Meditation, die ein in der Meditation im Hier und Jetzt erfahrbares Selbst postuliert.

Eine solche Grundsatzdiskussion würde aber den Rahmen dieses Buches sprengen. Ich setzte in meinen Ausführungen die Erfahrbarkeit eines «ursprüngliche Selbst» im Sinne eines Grundpostulates  voraus; ich bezeichne dieses Selbst als Primärselbst.

Ich unterscheide, wie ich noch ausführen werde, das unbewusste Primärselbst vom bewussten Primärselbst. Ersteres betrachte ich als individuelles Selbst, das aber nicht erst mit der Geburt entsteht, sondern bereits im fötalen Stadium vorhanden ist. Das bewusste, auf der Ebene der Zenrealität erfahrbare Primärselbst ist überindividuell.

Das unbewusste Primärselbst wird auch von westlichen Denkern und Psychologen thematisiert:

JEAN-JAQUES ROUSSEAU (1712-1778), der Querdenker aus dem calvinistischen Genf, entdeckte nicht nur die Welt der Meditation im Selbstversuch. Ausgerüstet mit diesem eminent tiefenpsychologischen Instrument, begegnete er in seiner unschuldig kindlichen Neugier auch verschiedenen Aspekten des Selbst. «Nichts ist mir so unähnlich wie ich selbst, darum wäre es müssig, mich anders definieren zu wollen, als durch diese einzigartige Mannigfaltigkeit …

Bisweilen bin ich ein harter und grausamer Misanthrop, dann wieder falle ich in Verzückung ob der Reize der Gesellschaft und der Wonnen der Liebe … Mit einem Wort, ein Proteus, ein Chamäleon …».

Das wahre Selbst, die wahre Natur des Menschen

Nach RÜDIGER SAFRANSKI beschrieb ROUSSEAU das «wahre Selbst» als «wahre Natur des Menschen» im Gegensatz zum «durch kulturelles Blendwerk und Täuschung» charakterisierten Selbst. Im Bestreben, die Gesellschaft und deren schädigende Einflüsse auf das «natürliche Selbst» zu verändern, kam ROUSSEAU allerdings vom ursprünglichen Ziel der Selbsterkenntnis ab, vertraute nicht auf die Erfahrung des Herzens, verliess sich auf sein Denken und geriet wieder auf die ausgetretenen Pfade der Erzieher.

ROUSSEAU ist nicht bis zum ursprünglichen Selbst, zum «original face» des Zen vorgedrungen. Trotzdem ist sein Mut und die Unerschrockenheit, mit der er seine Ziele verfolgte und seine Einsichten zu veröffentlichen wagte, aussergewöhnlich. 

Noch bevor die Selbstdiskussion im Zusammenhang mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie entbrannte, beschrieb GEORG GRODDECK (1866-1933), der für viele als der Begründer der Psychosomatik gilt, mit seinem Begriff des «Es»ein Phänomen, das dem frühen Selbst entspricht:
«Selbsterkenntnis ist nicht Kenntnis unseres Ichs, sondern unseres Selbst, unseres Es. Und es besteht für mich kein Zweifel, dass der Mensch, solang sein Ichbewusstsein noch schwach ist, mehr von seinem Selbst, von seinem Es weiss, als von dem Zeitpunkt an, wo er das verhängnisvolle Wort ‹Ich› gebraucht.

Das Wort Ich ist eine Brille – eine unentbehrliche, nicht zu vermeidende Brille, die uns zwingt, alle Dinge, vor allem unser Selbst, verzerrt, entstellt oder verschönert zu sehen, die Gottnatur uns gab, damit wir nicht sind wie Gott.

Es ist nicht jedem gegeben, kindlich zu sein, und die, denen ein gewisses Mass der Kindlichkeit gegeben wurde, haben kein Verdienst daran, ebensowenig wie der Hammer ein Verdienst daran hat, dass er Hammer und nicht Glocke ist. Es ist nicht zu allen Zeiten erlaubt, sich selbst zu kennen. Freue sich ein jeder, der Augenblicke der Selbsterkenntnis hat. … Der grösste König der Menschheit ist das Kind.»

Kindsein – die höchste Überlegenheit

Mit seinem Bekenntnis zum Kind, mit seiner Überzeugung von der Überlegenheit des Kindseins dem Erwachsensein gegenüber, zeigt GRODDECK, dass für ihn das Es – ungleich dem psychoanalytischen Es – als naturhaftes Selbst die wahre Basis des Menschseins ist.

DONALD WINNICOTT hat im Rahmen seiner Tiefenpsychologie in den sechziger Jahren ein erweitertes Selbstkonzept entwickelt. Er unterscheidet das wahre vom falschen Selbst. Wie letzteres entsteht, beschreibt er folgendermassen:
«Passt sich die Umwelt nicht ausreichend an die Bedürfnisse des Säuglings an, wird er im Gegenteil ständig Impulsen und Übergriffen aus der Umwelt ausgesetzt und gezwungen, hierauf zu reagieren, so führt dies zu Störungen im Aufbau der Persönlichkeitsstruktur, es entwickelt sich ein falsches Selbst, eine Pseudopersönlichkeit und der eigentliche, wahre Kern der Persönlichkeit muss sich verbergen oder wird vernichtet.» 

Damit werde «von denjenigen Selbsterlebnissen abgewichen, die in höherem Masse durch den ‹inneren Entwurf› des wahren Selbst bestimmt sind», schreibt MARIO JACOBY in seinem Buch «Grundformen seelischer Austauschprozesse».

JACOBY geht auch auf das Selbstkonzept des Säuglingsforschers DANIEL STERN ein:
«Stern schlägt … eine andere Terminologie vor. Er meint, man könne das sich entwickelnde Selbstgefühl in drei Kategorien unterteilen:
das ‹soziale› Selbst,
das ‹private› Selbst und
das ‹verleugnete› Selbst. …

Im günstigsten Falle nähern sich diese Selbstanteile im Laufe der Entwicklung dem ‹inneren Entwurf› der Persönlichkeit an, wie es der Vorstellung KOHUTs, aber natürlich auch dem Prozess der Individuation im Sinne JUNGs entspricht.»

ALICE MILLER wie auch CHRISTA ROHDE-DACHSER stützen sich in ihren Theorien auf das Konzept von einem wahren und einem falschen Selbst. Insbesondere MILLER hat in der gesellschaftskritischen Deutlichkeit ihrer Sprache kein Blatt vor den Mund genommen; in ihrem Buch «Du sollst nicht merken» schreibt sie:
«Die Opferung des Kindes ist nirgends verboten, verboten ist vielmehr, darüber zu schreiben.»

Zu dieser Opferung gehört auch der Ersatz seines «wahren Selbst» durch ein anerzogenes «falsches Selbst».

Dr. Kurt Eugen Schneider
Dr. Kurt Eugen Schneider

Stichworte

Themen