Wie wir psychische Schmerzen verdrängen und vermeiden

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Schmerzvermeidungsstrategien des sozialisierten Sekundärselbst

Die Sozialisation, die vom Primär- zum Sekundärselbst überleitet, ist untrennbar mit dem Prozess der Verdrängung und dem Unterdrücken von unerwünschten Gefühlsreaktionen verknüpft. Die Entwicklung des Sekundärselbst, des eigentlichen Kernproduktes dieses Prozesses, fällt deshalb auch mit der Verdrängung der psychischen Schmerzerfahrung zusammen.

These:

Weil der psychische Primärschmerz über den Liebesentzug(-verlust), der mit der Trennung vom Primärselbst verbunden ist, so tief berührt und an unangenehmer Qualität nicht zu übertreffen ist, haben wir gelernt, Copingstrategien zu entwickeln: Die Folge sind reaktive psychische Gefühle, die ich als Sekundärgefühle bezeichne. 

Diese Sekundärgefühle sind zunächst Sekundärschmerz/Kränkung, Sekundärwut/Ärger, Sekundärangst/Angst vor Gesichtsverlust. Im Prozess der Sozialisierung entstehen, wie im ersten Teil bereits erwähnt, differenziertere Sekundärgefühle wie Scham, Neid, Verachtung etc.

Das folgende Modell, das die Folgen von psychischen Verletzungen (Kränkung) zur Darstellung bringt, ist aus den physiologisch bedingten Gefühlen des Primärselbst abgeleitet. Die Sekundärwut und die Sekundärangst ersetzen dabei Aggressivität und Furcht. Die Sekundärwut, mit der Hass und Gewalt verbunden sind, habe ich im Kapitel Gewalt und Macht im Zusammenhang mit der Erregungsliebe ausführlich dargelegt. Auch auf die Sekundärangst, der ich als Folge die (sekundäre) Panik und die Depression zuordne, bin ich bereits eingegangen. 

Kränkungen – Ursprung von Hass und Gewalt

Wie bereits erwähnt, hat sich im Verlauf der Sozialisation, die mit einer entsprechenden Zunahme der Ich-Entwicklung und -identifizierung einhergeht, eine komplexere Variante des psychischen Sekundärschmerzes entwickelt, das Phänomen der Kränkung: Die Bedrohung, die mit der Kränkung verbunden ist, bezieht sich vor allem auf das Infragestellen unserer Ich-Persönlichkeit, das heisst unseres Sekundärselbst.

Je unsicherer wir uns fühlen bezüglich der Rolle, die wir einnehmen, um so stärker reagieren wir auf herabsetzende Verletzungen, auf Entwertungen. Die Stärke der Verletzbarkeit resp. Kränkbarkeit ist abhängig von der Ich-Stärke.

Kränkungen können im Extremfall zu lebenslangem Hass und heftigen Rachehandlungen, bei aggressionsgehemmten Individuen – die diese Gefühle gegen sich selbst wenden – in die Depression und im Extremfall zum Suizid führen.

Kollektive Kränkungen können in clanmässig organisierten Gesellschaften eine generationenüberschreitende Blutrache auslösen. Individuelle, familiäre und nationale Kränkungen, die zusätzlich durch religiöse Metasysteme (als höchste Stufe eines Sekundärselbstkomplexes) gerechtfertigt werden, bilden die Ingredienzien, aus denen Kriege seit Jahrtausenden ihren emotionalen Treibstoff beziehen.

Psychischer Sekundärschmerz, d. h. körperunabhängige Reaktion auf psychische Verletzung und deren Auswirkungen auf das Sekundärselbst


Psychischer Sekundärschmerz, d. h. körperunabhängige Reaktion auf psychische Verletzung und deren Auswirkungen auf das Sekundärselbst

These:

Die psychischen Sekundärgefühle Angst und Wut werden von zunehmend differenzierteren Abwehrstrategien (gegen den psychischen Schmerz des Liebesverlustes) überlagert. Ich bezeichne diesen Differenzierungsprozess als Verdrängungskaskade. Ihr entspricht ein zunehmender Verlust an Gefühlsintensität.

Verdrängung ist eine Grundstrategie, um mit dem psychischen Schmerz des Liebesverlustes umzugehen

Es gibt verschiedene Mechanismen (Copingstrategien), die es dem sozialisierten Menschen gestatten, mit dem psychischen Schmerz des frühen Liebesverlustes und den durch zwischenmenschliche Begegnungen und äussere Einflüsse immer wieder reaktivierten Erinnerungen daran besser umgehen zu können.

Der Prozess der Verdrängung hat sich – neben der Sublimation – als bevorzugte Strategie bei der Entwicklung des Sekundärselbst wie auch bei seiner Erhaltung erwiesen. Dieser als Abwehrmechanismus bekannte Vorgang erzeugt die Inhalte des persönlichen Unbewussten. Im Hinblick auf die Sozialisation ist er wünschenswert, ja unabdingbar.

Der Weg der Heilung führt zurück ins Primärselbst

«Missglückte» Verdrängung drückt sich nach FREUD in neurotischen Symptomen aus. Erst die «missglückte» Verdrängung zwingt uns Erwachsene dazu, uns dem Verdrängten zu stellen. Wie bereits ausgeführt, braucht es einen starken Leidensdruck, um diesen Weg der bewussten Einsicht zu beschreiten. Er führt zurück zum Primärselbst

Doch scheint uns die aus existentieller Sicht einzig sinnvolle Verhaltensweise des erwachsenen Menschen, nämlich die Verdrängung rückgängig zu machen, das anzunehmen, was ist, dies auch körperlich auszudrücken und dadurch zu erlösen, ausserordentlich schwer zu fallen; zumindest solange wir mit unserem Sekundärselbst identifiziert sind und alles im Griff zu haben vermeinen. 

Über die Notwendigkeit des Verdrängens

«Im Grunde genommen ist das Wesentliche, was der Mensch tut, Verdrängen: das ist sein Leben.» Mit dieser Aussage zeigt sich GEORG GRODDECK als treuer Schüler seines verehrten Lehrers SIGMUND FREUD.

Und er erklärt auch gleich, weshalb der Mensch verdrängen muss: «Ungeheure Massen (an Eindrücken) strömen in Wahrheit dauernd aus der Aussenwelt auf uns ein: sie würden uns vernichten, wenn nicht das Es wäre, das sichtet; was für uns passt, verwendet es für unser Ich, und was nicht dafür passt, verdrängt es, verwendet es für etwas anderes, ab und zu für das Krankwerden.» 

Dieses frühe Plädoyer für die Notwendigkeit des Verdrängens drückt die bis heute gültige grundlegende Überzeugung vor allem auch der offiziellen Psychologie und Psychiatrie aus. Im folgenden verweise ich aber auf Auswirkungen, die den positiven Effekt dieser Strategie relativieren. Gleichzeitig stimme ich aber mit GEORG GRODDECK dahingehend überein, dass Verdrängung für die Sozialisation notwendig ist und im Verlauf einer Psychoanalyse keineswegs alles Verdrängte dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden sollte. 

Therapeutische Ansätze

Das therapeutische Ziel liegt darin, diejenigen Anteile des Verdrängten, die die Genesung verhindern, aus ihrem Gefängnis zu erlösen, gleichsam im Sinne einer Geburtshelferfunktion des Therapeuten. In einer tiefergehenden Therapie resultiert dabei auch eine spirituell bedeutungsvolle «zweite Geburt»: Dadurch, dass ich die Wirkungen der Sozialisation auf mein ganzes Verhalten und Fühlen wahrnehme, werde ich befähigt, mein Leben von den Zwängen der gesellschaftlichen Normen unabhängiger zu leben.

Dann vermag ich frei zu entscheiden, was ich in meiner Funktion als Mitglied der Gesellschaft behalten und was ich als unvereinbar mit meinem individuellen und spirituellen Weg verwerfen will.

Wie Komplexe entstehen

Die Gefahr des Verdrängens liegt für mich darin, dass es sich dabei nicht um einen einmaligen Vorgang handelt, über den wir ein für alle Mal Unangenehmes gleichsam ins Unbewusste zu entsorgen vermögen. Je mehr wir – aus welchen Gründen auch immer – dazu gezwungen werden zu verdrängen, desto stärker werden die verdrängten Inhalte energetisch aufgeladen – C. G. JUNG spricht von Komplexen. Die abgespaltenen seelischen Persönlichkeitsanteile führen im Unbewussten zunehmend ein eigenes Leben und machen sich als Gegentendenzen im Bewusstsein störend bemerkbar. Es wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der eine Eigendynamik entfaltet, die immer mehr unserer Kontrolle entgleitet. 

Wie ich immer wieder thematisiert habe, ist nach meinem Dafürhalten der zentrale Motor für die Verdrängung die psychisch schmerzhaft erlebte Tatsache des primären Liebesentzugs, der aber zur Condition humaine gehört und unvermeidbar ist. Ohne ihn ist Ich-Entwicklung nicht möglich, die unabdingbare Voraussetzung ist für die Erfahrung der Transzendenz.

Es kann also nicht um die Frage gehen, wie diese primäre und psychisch schmerzhafteste Erfahrung des Menschen umgangen werden kann. Vielmehr sollen einerseits Möglichkeiten dargestellt werden, wie das Individuum und unsere Gesellschaft damit umgehen können. Andererseits geht es auch darum aufzuzeigen, was die auf die Werte unserer westlichen Gesellschaft ausgerichtete Sozialisation für Folgen mit sich bringt.

Vermeidungs- und Ersatzstrategien:
die Verdrängungskaskade

Ich fasse hier den Begriff «Verdrängung» weiter als die psychoanalytische Definition. Die Verdrängungskaskade zeigt auf, wie die Abwehr des psychischen Schmerzes über den Liebesentzug mit zunehmend differenzierteren Mitteln angegangen wird. Sie macht die Vermeidungs- und Ersatzstrategien deutlich, die sich im Rahmen der zunehmenden Sozialisierung eingestellt haben.

Was in der Vorstellung des modernen, rationalen Menschen eine permanente Höherentwicklung bedeutet, erscheint in einem anderen Licht, wenn wir den Blick auf das Wesen des Menschen richten. In dieser Sicht führt die Differenzierung der Abwehr bildlich gesprochen zu einer zunehmenden Trennung von Primär- und Sekundärselbst, was eine Rückverbindung zum Primärselbst immer schwieriger macht.

Je stärker verdrängt die ursprünglichen Gefühle sind, um so verfremdeter sind unsere aktuellen Gefühle und Symptome und um so leichter lassen sie sich austauschen. Je mehr wir uns den tiefer liegenden, ursprünglichen Gefühlen (zuoberst in der Abbildung) nähern, desto weniger ist ein Ersatz möglich.

Die Sozialisation in unserer Konsumgesellschaft geht dahin, mit dem Ziel der grösstmöglichen Kontrolle die Verdrängungskaskade immer weiter voranzutreiben, möglichst viele Ersatzbedürfnisse zu schaffen, die mit immer neuen Angeboten befriedigt werden sollen.

Solange die primären Gefühle verdrängt sind, werden wir – in der Hoffnung, unsere unbenannte Sehnsucht zu stillen – jede neue Ersatzbefriedigung willkommen heissen.

Die Verdrängungskaskade

Wie sich die Gefühle entwickeln, wenn Lebensenergie verdrängt wird

Die Verdrängungs-Kaskade
Die Verdrängungskaskade

Angestaute Energien, die sich ausdrücken wollen

Die Verdrängungskaskade hält mit ihren angestauten Energien die Spirale der Gewalt in Gang. Nicht ausgelebte Aggression baut ein noch grösseres Potential von Gewaltenergie auf. Wer diese nicht in Form von Scham- und Schuldgefühlen sowie Depression gegen sich selber richtet, ist gezwungen, immer wieder von neuem entlastende Situationen zu kreieren, in denen Energien in kleinen Dosen, mehr oder weniger sozial anerkannt, entweichen können.

Die Lebensenergie der Selbst- und der primären Erregungsliebe verkümmert im Lauf des Verdrängungsprozesses, was übrig bleibt, sind beziehungslose Realitätskonstrukte.

Eine gute Anpassungsfähigkeit an die Normen der Gesellschaft zeigt sich darin, dass das Individuum die Strategien zur Verdrängung und Sublimation, diesen entwicklungsgeschichtlich bevorzugten Qualitäten der Kontrollfähigkeit und damit der wohldosierten Aufschiebung und Verschiebung, beherrscht.

Gewisses Suchtverhalten wie Besitzgier, Arbeits- und Konsumsucht oder exzessiver Erlebnishunger ist ausgesprochen erwünscht. Dass hinter all diesen Ersatzhandlungen und -massnahmen das Bedürfnis nach der Selbstliebe steht, ist dem modernen Menschen nicht mehr einfühlbar; je mehr er den Anforderungen der Leistungs- und Konsumgesellschaft entspricht, um so mehr hat er die Fähigkeit, sich in sich selbst einzufühlen, seine echte Befindlichkeit und seine echten Bedürfnisse wahrzunehmen, verloren.

Projektion als Schmerzvermeidungsstrategie

Verdrängtes lässt sich nicht beliebig ruhigstellen, da es als – ungeliebter – Teil unserer Persönlichkeit in diese integriert werden sollte. Der Verdrängungsmechanismus zieht daher andere Mechanismen nach sich, die die unangenehme Bewusstwerdungs-Tendenz verhindern sollen.

Im Prozess der Projektion wird das Verdrängte nach aussen, auf andere Personen, verlagert, wodurch das Ich davor bewahrt wird, diese Inhalte als zu ihm gehörig erkennen zu müssen. Geschieht dies gesellschaftlich sanktioniert, funktioniert dieser Mechanismus oft längerfristig. Die Projektion der Selbstverachtung, die aus dem Erleben, nicht zu genügen, entstanden ist, in Form der Verachtung, gilt als achtbare Strategie, solange sie im Einklang mit den Werten der Gruppe resp. der Gesellschaft stehen.

Wer verachtet, entwertet andere, indirekt aber sich selbst. Die chronische Angst vor dem Versagen erzeugt Verachtung als Lebensstil. 

Je mehr wir aus einer sozial gesicherten Position heraus verachten, desto gelassener erleben wir uns in der Berechtigung unseres Gefühls. Schliesslich hat sich «der andere» wirklich daneben, unmöglich, lächerlich oder gar gemein verhalten. Wir sind unserer Sache sicher, bestätigt durch andere, die grossteils ähnliche Verdrängungen in sich tragen und projizieren, da sie ja in der gleichen Kultur sozialisiert wurden.

Je besser sozialisiert der Verachtende ist, desto griffiger ist seine «Waffe». Oft wird es sehr schwierig, das Destruktive des Verhaltens aufzuzeigen, da es sehr «feinfühlig» eingesetzt wird. 

Verschiedene Anpassungsmöglichkeiten an die sozialen Anforderungen

Wie zu vermuten ist, hängt die erfolgreiche Sozialisation mit konstitutionellen und biographischen Faktoren zusammen. Ich unterscheide vier Anpassungstypen, entsprechend ihrer Verdrängungsfähigkeit und ihrer Wahl der Ersatzbefriedigungen

Wenn ich im Folgenden von «starken» und «schwachen» Menschen spreche, so weisen die Anführungszeichen darauf hin, dass ich damit nicht eine objektiv nachweisbare Tatsache, sondern ein subjektiv von den Betreffenden selbst empfundenes Anpassungsschicksal beschreibe.

Vier Anpassungstypen 

  1. «Starke» Individuen, die sich innerhalb der Familie angenommen fühlen, durchlaufen die Sozialisation im allgemeinen ohne grosse Probleme. Mit den Belastungen und insbesondere mit der Doppelmoral, die das Erklimmen der sozialen Leiter mit sich bringt, werden sie souverän fertig.

    Sie bilden die Elite der Angepassten, stehen hinter den gesellschaftlichen Werten, verteidigen den Status quo erfolgreich und geben ihrerseits die Werte dieser «Normalität» weiter. Für sie überwiegen die Vorteile des angepassten Verhaltens die Nachteile, die Vernunft siegt über die grundlegenden Bedürfnisse und Gefühle. 
  2. Angepasste «schwache» Individuen stellen die wohl häufigste Variante derjenigen, die sich innerhalb ihrer Ursprungsfamilie abgelehnt resp. nur unter Bedingungen angenommen fühlen. Bei ihnen übersteigt die Angst ihre existentielle Wut. Sie richten letztere gegen sich selbst und schämen sich sowohl dafür, dass sie nicht den Mut aufbringen, sich für sich zu wehren, als auch darüber, dass sie immer wieder in den Augen der anderen versagen und nicht allen Ansprüchen genügen, die ein erfolgreiches Bewältigen der Verdrängungskaskade mit sich bringen würde.

    Angepasst und fremdbestimmt schlagen sie sich durch das Leben. Im Unterschied zu den «starken» Angepassten leiden sie an der Fremdbestimmung. Der Konsumrausch resp. andere erlaubte und verbotene Ersatzsüchte sowie Psychopharmaka halten sie knapp im Gleichgewicht. 
  3. Früh rebellische «starke» Individuen zeichnen sich innerhalb der Familie meist durch starke Abgrenzungs- und Oppositionstendenzen aus. Sie halten unter repressiven Bedingungen ihre Wut nicht durch übermässige Angst zurück.

    Zahlreiche Oppositionelle in Politik und im sozialen Bereich rekrutieren sich aus dieser Gruppe. Je weniger sie innerhalb der Familie erleben, dass Konflikte ohne Gewalt gelöst werden können, um so eher werden sie zu gewalttätig delinquentem Verhalten neigen. 
  4. «Starke» Individuen, die durch den Leidensdruck einer psychischen Störung oder durch von aussen auferlegte Schicksalsschläge gezwungen werden, einen Bruch in ihrem Lebenslauf zu hinterfragen, können zu existentiellen Rebellen werden.

    Möglicherweise führt sie dieser Weg bis hin zur Erfahrung der Transzendenz. In diesem Prozess der Selbstsuche werden sie die Verdrängungskaskade in umgekehrter Richtung bis hin zum Primärschmerz auflösen, um mit ihrem Primärselbst in Kontakt zu treten. 

Die Selektion als Triebfeder des Verdrängungsprozesses

Bei der Beschäftigung mit den über Jahrtausende hin sich entwickelnden Verdrängungsmechanismen dürfen wir einen entscheidenden Punkt nicht vergessen: Unverzichtbare Grundlage für den Prozess der erfolgreichen Verdrängung des Primärschmerzes ist ein stressresistentes, anpassungs- und widerstandsfähiges hirnorganisches Substrat.

Die komplizierten Aufgaben der Ich-Organisation

Dies zeigt sich nicht zuletzt am entwicklungsgeschichtlichen Erfolg des Homo sapiens. Die Fähigkeit eines Individuums, sich diszipliniert zu verhalten, seine Triebe zu beherrschen und die komplizierten Aufgaben der Ich-Organisation erfolgreich zu bestehen, setzt optimale körperliche und geistige Fähigkeiten voraus. Darin liegt wohl entwicklungsgeschichtlich gesehen auch der Sinn dieses Selektionsverfahrens. 

Zu diesen Fähigkeiten gehört die Entwicklung des Verdrängungsmechanismus mit der Ausbildung eines persönlichen Unbewussten, das alle Anteile, die mit der sozialen Anpassung im Widerspruch stehen, wirksam «unter Verschluss» hält und das den zunehmenden psychischen Stress verkraften kann.

Allerdings erträgt der Mensch nicht beliebig viele Verdrängung, da die ins Unbewusste verdrängten Inhalte energetisch geladen sind und die erwähnte Tendenz haben, sich entgegen den Intentionen des Ich bemerkbar zu machen.

Der Versuch, das zu verhindern, führt zu einer zunehmenden Abschottung des Unbewussten vom Ich, allerdings nicht nur des persönlichen Unbewussten mit den verdrängten Inhalten, sondern auch des artspezifischen kollektiven Unbewussten, dem in meinem Gefühlsmodell die primäre Erregungsliebe zuzuordnen ist, was zur Folge hat, dass wir auch von unserer Kreativität und unserem «Bauchwissen» abgeschnitten sind.

Drogen ermöglichen den Zugang zu ursprünglichen Empfindungen

Die enorme Faszination halluzinogener Drogen wie LSD, die eben diesen Zugang zum Unbewussten auf chemischem Weg ermöglichen, erstaunt jetzt nicht mehr: Halluzinogene heben die Schranke zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten auf und ermöglichen damit den Zugang zu ursprünglichen Empfindungen.

Allerdings erfolgt diese chemisch bewirkte Öffnung des Unbewussten nicht selektiv im Hinblick auf Selbstliebe und primäre Erregungslust, daher kann die Überflutung mit verdrängten Inhalten auch zu Horrortrips führen.

Zudem fehlt – ohne eine fachkundige therapeutisch/spirituelle Begleitung – meist die bewusste Integration drogeninduzierter Erfahrungen des Unbewussten.

Es liegt auf der Hand, dass diese Faszination nicht durch Verbote unterdrückt werden kann. Doch werden wir beim Gebrauch von Drogen in einer neuen Form abhängig und fremdbestimmt.

Meditation, der natürliche, aber anstrengende und anspruchsvolle Weg vermag ohne Chemie den Zugang zum Unbewussten zu öffnen. 

Süchte als Schmerzvermeidungsstrategie

Vor dem Hintergrund meines Gefühlsmodells erscheint der enge Zusammenhang zwischen Süchten und dem psychischen Schmerz offensichtlich. Unabhängig davon, ob wir von verbotenen, tolerierten oder von gesellschaftlich angesehenen Süchten sprechen, liegt meiner Ansicht nach allen als Ursache das Bedürfnis zugrunde, psychische Schmerzen damit verdrängen zu können, respektive diese erst gar nicht mehr fühlen zu müssen.

(Beim chronischen Substanzmissbrauch muss allerdings ein sekundäres Phänomen berücksichtigt werden: Infolge der Körpergewöhnung an gewisse Drogen kann es nicht nur zu einer rein psychischen, sondern auch zu einer biochemischen Abhängigkeit kommen, die bei Verzicht auf das Suchtmittel zu physischen Entzugserscheinung führt.) 

Eine detaillierte Besprechung dieses weitreichenden Themas ist hier nicht möglich. Die folgende Zusammenstellung, in der ich die Süchte unter dem Aspekt der aktiven und passiven Strategien betrachte, vermittelt eine grobe Übersicht. In Bezug auf die physiologischen Zusammenhänge verweise ich auf meine Ausführungen zur Physiologie der Seinsliebe sowie der primären Erregungsliebe.

Die Strategien von Sucht

  • Erregende Süchte als Ersatz für die primäre Erregungsliebe
    Diese Liste ist lang, sie enthält altbekannte Suchtmittel wie Nikotin, Koffein und Kokain, aber auch moderne wie Anregersubstanzen (Anabolika, Amphetamine). Zudem suchtmittelunabhängige Süchte wie Arbeits- und Leistungssucht sind dazuzurechnen sowie insbesondere Extremsport, Börsenspekulationssucht, die ganze Palette der Sexsüchte etc., die sich zu lukrativen Wachstumsmärkten entwickelt haben.
    Da sie sowohl die Arbeitswilligkeit als auch den Umsatz fördern, werden sie zwar als gesundheitsschädlich gebrandmarkt, aber trotzdem nicht geächtet. Vielfach geniessen die Ausübenden besonders hohes gesellschaftliches Ansehen.
    Grundsätzlich intensivieren diese Süchte das sympathische vegetative System mit Dopamin als Schlüsselsubstanz. 
  • Dämpfende Süchte als Seinsliebe-Ersatz
    Diese Süchte wirken sich über Oxytocin und Endorphine vorwiegend auf das passive parasympathische vegetative System aus, entweder dämpfend oder in Richtung eines seinsliebeähnlichen Zustandes. Entsprechend sind sie, mit Ausnahme von Konsumrausch und Esssucht, gesellschaftlich höchstens toleriert, vorwiegend aber geächtet.
    Zu diesen Süchten rechne ich die Alkoholabhängigkeit, den Heroin- sowie den übermässigen Haschischkonsum und insbesondere auch den  Medikamentenmissbrauch (Schlafmittel, beruhigende Psychopharmaka).
  • Sonderstellung Zucker
    Eine Sonderstellung unter den Suchtmitteln nimmt Zucker (Glukose) ein. Er ist «natürlich», wirkt über die Zufuhr an Stoffwechsel-Energie anregend/erregend und ist, über seine verführerische Süssigkeit, bei jung und alt als (Seins-)Liebe-Ersatz begehrt.
Dr. Kurt Eugen Schneider
Dr. Kurt Eugen Schneider

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