Selbstliebe als Grundvoraussetzung zum glücklichen Leben
These:
Wem es gelingt, den Kontakt zum Primärselbst herzustellen,
ist «glücklich»,
im Zustand der Seinsliebesowie im Erleben der primären Erregungsliebe.
Die lebensbejahende Erfahrung der Freude an der primären Erregungslust ist zweifellos das, worauf es im ersten Lebensabschnitt ankommt. Diese Lust an der Körperenergie ist mit der ursprünglichen Liebe zu sich selbst identisch. Im Einklang mit mir selber erlebe ich die Seinsliebe. Ich bin im Kontakt mit meinem Primärselbst.
Rückbesinnung auf den Körper
GERDA BOYESEN, die Begründerin der Biodynamik, hat die Technik der psychologisch interessierten Auskultation des Darmes entwickelt. Dabei handelt es sich um eine Untersuchungsmethode, bei der analog der medizinischen Diagnostik mittels eines Stethoskopes die Darmgeräusche abgehört werden. BOYESEN vermutet, dass im Darm und in seiner glatten Muskulatur traumatische (Körper)Erinnerungen festgehalten sind, die, ähnlich denjenigen, die die Bioenergetik in der Skelettmuskulatur nachgewiesen hat, durch intuitiv-gezielte Berührungen behoben werden können.
Es scheint ein sinnloser Zeitvertreib, wenn ich meinen eigenen Darmgeräuschen zuhöre. Diese Beschäftigung mit mir selbst hat aber die folgenden Vorteile: Zum einen bin ich dabei ganz in der Gegenwart, vor allem, wenn ich beim Zuhören gleichzeitig noch meinen Körper an den verschiedensten Stellen berühre (oder berühren lasse), z. B. an den Füssen. Zum anderen wechsle ich dabei in meiner Wahrnehmungsart vom Sehkanal auf den Hörkanal, d. h. in eine weniger «verbrauchte» Erlebniswelt.
Berühre ich mich dabei zusätzlich, so verschiebt sich die Erfahrung nicht nur weiter in die frühe, averbale taktil-kinästhetische Welt, sondern es ergibt sich – über die Verbindung zur frühen kreuzmodalen Wahrnehmung – eine authentische Erfahrung, wie sie derjenigen des zufriedenen Säuglings sehr nahe kommt. Ich bin im Primärselbst.
Als positive Folge der Zwiesprache mit meinem Körper werde ich feststellen, dass meine Berührungen den Darm nicht gleichgültig lassen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden die Geräusche sprudelnder, lebhafter; der Energiefluss im Darm, vielfach seit Jahrzehnten blockiert, kommt zum Fliessen. Bei dieser Entlastung von alten Verspannungen überkommen uns häufig Schwindelgefühle, Kribbeln in den Extremitäten (Einschiessen von Energie in unterdrückte Körperbereiche) oder häufig danach eine grosse Müdigkeit, schliesslich, wenn der Libidofluss wieder in Gang gekommen ist, stellt sich ein Zustand ungekannter Zufriedenheit, von Wohlsein ein.
Das Misstrauen und die Angst vor einer nochmaligen schmerzhaften Verletzung im Zustand der ungeschützten Offenheit ist, wie früher bereits erwähnt, gross und hält viele davon ab, sich auf solche Erfahrungen einzulassen. Ich bin der Überzeugung, dass das missbrauchte frühkindliche Urvertrauen durch kognitive Anstrengungen nicht wiederhergestellt werden kann. Die Rückbesinnung auf den eigenen Körper, das Zulassen von Selbst- und Fremdberührung und damit von Gefühlen ist dafür eine wesentliche Grundvoraussetzung.
BOYESEN spricht vom Schreckreflex, der sich einstellen kann, wenn das in der Körperexploration freudig absorbierte Kind von einer verärgerten Mutter plötzlich gefragt wird: «Was tust du da?» Da diese misstrauische Frage mit einer so freudvollen Handlung wie der Berührung des eigenen Körpers verbunden ist, birgt sie ungeahnten Zündstoff. Die individuelle Not, die sich daraus für Millionen von Menschen ergeben hat und auch heute noch ergibt, kann vom einzelnen kaum erahnt werden.
BERNIE ZILBERGELD hat dem Thema Masturbation in seinem Buch «Männliche Sexualität» ein ausführliches Kapitel gewidmet, das detailliert die Kampagne beschreibt, die noch in den vierziger Jahren von Moralpredigern der Kirchen und Jugendorganisationen (zum Beispiel auch der Pfadfinder) betrieben wurde. Diese Kampagnen wurden unterstützt durch pseudowissenschaftliche Erklärungen medizinischer «Experten».
Erst ALFRED KINSEY gelang es 1948, mit seiner grossen Umfrage Licht in die unter totaler Verschwiegenheit gehaltene Wirklichkeit des Sexuallebens zu bringen: 92% der Männer bekannten sich dazu, onaniert zu haben, ein Grossteil davon auch noch im Erwachsenenalter, und das, ohne dass sie dabei schädliche körperliche Folgen entdecken konnten. Allerdings empfanden viele dabei starke Angst– und Schamgefühle.
Wenn sich auch seit KINSEY die Einstellung zur Sexualität stark verändert hat, gibt es auch heute noch «Autoritäten», die die Masturbation zur Sünde stempeln.
Dass auf diesem Hintergrund Selbstbefriedigung zum neurotischen Verhalten werden kann, erstaunt nicht. Es kann sich ein fataler Kreislauf entwickeln, der von einem Mitglied der Selbsthilfegruppe «Anonyme Sexaholiker» in der Zeitschrift PULS beschrieben wird:
«Nach Abstürzen empfinde ich nur Leere. Oder Scheu, Ekel und enorme Schuldgefühle. Um solche Gefühle zu überdecken onaniere ich wieder – diesmal noch gehetzter.»
In dieser Situation heizt das Verbot einerseits die sekundäre Erregungslust an, andererseits verhindert es den wirklich befriedigenden, unmittelbaren Bezug zum eigenen Körper. Der Bruch zwischen den widerstrebenden Impulsen einerseits und den elementaren, aber verdrängten Bedürfnissen nach echter Körperwahrnehmung andererseits macht sich in einer existentiellen Entzweiung, einem inneren Gespaltensein, bemerkbar.
Der Versuch, sich Selbstliebe körperlich zu geben, muss misslingen.
Körperwahrnehmung als Hilfe auf dem Weg zurück zum Urvertrauen
These:
Der körperlicher Zugang zum Zustand des bewussten Primärselbst im Hier und Jetzt vermittelt die Urerfahrung,geliebt zu sein.
Wer «weiss», dass er geliebt wird,
ist fähig, sich selbst zu lieben.
Therapeuten, die nicht nur die Gedanken und Träume ihrer Patienten, sondern auch deren Körper und dessen Wahrnehmung in ihre Therapie mit einbeziehen, erleben es regelmässig, dass Patienten zu ihrem Körper ein gestörtes beziehungsweise überhaupt kein Verhältnis haben. Darauf angesprochen, lehnen es ihre Klienten häufig ab, zu versuchen den Körper zu spüren, oder sie gestehen, wie peinlich das für sie ist.
Nicht nur für den Therapeuten, sondern noch mehr für die Patienten ist es oft überraschend, wie einzelne Körperteile oder eine ganze Körperseite überhaupt nicht oder als «gefühllos» oder «kalt» empfunden werden.
Dagegen nimmt der Kopf einen verhältnismässig übergewichtigen Raum ein; das Gefühl für die Hände und insbesondere die Beine und die Füsse ist häufig verkümmert oder gar nicht vorhanden. Die Patienten schweben gleichsam über dem unbedeutenden unteren Körperbereich und stehen damit oft nicht «auf dem Boden».
Es lohnt sich, meiner Atmung und vor allem auch der unteren Hälfte meines Körpers zusätzliche Aufmerksamkeit zu schenken. Insbesondere den häufig vernachlässigten Füssen, die mich vom Morgen bis zum Abend, jahrein, jahraus durch die Welt zu ach so wichtigen Terminen tragen.
Mit einer liebevollen Massage, mit einem Bad oder auch einfach, indem ich sie wahrnehme, mir einmal Zeit für sie nehme, kann ich mich «bei ihnen bedanken». Mit zunehmendem Bezug zu meinem Körper gelingt es mir vielleicht, ihn ebenso liebevoll, innig und mit Ehrfurcht zu berühren, wie ich meine Geliebte, meinen Geliebten umarme. In der Primärtherapie hat sich die Verwendung von Plüschtieren (Bären, Kaninchen, Tiger usw.) als ausserordentlich hilfreich erwiesen. In der innigen Umarmung mit diesen Übergangsobjekten wird die Rückkehr zum Primärselbst erleichtert.
Im liebevollen Umgang mit mir selber übernehme ich auch Aufgaben im Sinne der eigenen Bemutterung. Ich sorge gut für mein Essen, ich kleide mich liebevoll und gehe überhaupt spürbewusst mit mir selbst um. Das heisst, ich achte auf meine echten körperlichen, emotionalen wie auch geistigen Bedürfnisse und vermeide selbstschädigendes Verhalten. Da ich in direktem Bezug zu meinem Körper stehe, werden meine Handlungen sinnvoll.
Dem körperlichen Zugang zum Zustand des bewussten Primärselbst kommt eine besondere Bedeutung zu. Er stellt den natürlichsten Zugang dar, weil wir dabei kaum riskieren, uns in schwindelnde Geisteshöhen oder neurotische Tiefen zu verirren. Über die Atmung (Zazen und Vipassana in der östlichen Traditionen oder nach ILSE MIDDENDORF in unserem Kulturkreis) sowie über die Selbstwahrnehmung der Körperhaltung (ELSA GINDLER, GERDA ALEXANDER, MOSHE FELDENKRAIS) bleiben wir auf dem Boden der Wirklichkeit. Je unmittelbarer und gewisser ich zu meinem Körper in Bezug stehe, desto weniger bin ich auf erlerntes und überliefertes Wissen angewiesen, um damit mein Selbst zu definieren.
Die fremdbestimmte Fixierung auf andere weicht einem tief empfundenen, nicht mehr durch Äusserlichkeiten zu erschütternden Selbstvertrauen. Dabei erlebe ich mich gleichzeitig in vertrauensvoller Weise als Teil eines grösseren Ganzen und fühle mich deshalb auch in untrennbarer Weise damit verbunden. Wenn ich es wage, zu diesem Urvertrauen zurückzukehren, spüre ich, dass ich «dazugehöre», dass ich ein unverzichtbarer Teil dieses Ganzen bin, dass ich liebenswert bin und dass ich geliebt werde.
Dieses Urvertrauen nährt die «Selbst»liebe. Der moderne Mensch fühlt sich jedoch meist allein, das Urvertrauen hat sich im schicksalhaften Prozess der Sozialisierung verflüchtigt, als ob uns diese selbstverständliche Gabe des Lebens nie zur Verfügung gestanden hätte.
Ob das so sein muss, ist eine theoretische Frage. Für unsere persönliche Existenz ist wesentlich, dass es möglich wird, zu diesem Urvertrauen und damit zur Grunderfahrung, «geliebt zu sein», zurückzufinden. Erst wenn uns das gelingt, ist die Voraussetzung dafür gegeben, dass wir uns selbst lieben.
These:
Wer sich selber lieben kann,
ist fähig, andere zu lieben
Diese These verdeutlicht das, was der zweite Teil des alttestamentlichen Gebotes «Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst» ausmacht; eine Tatsache, die neben der einseitigen Aufforderung «Liebe Deinen Nächsten!» oft vergessen wird.
Im Versuch, dieses Gebot zu hinterfragen, meint ERICH FROMM, dass wir auch heute unter «lieben» vorwiegend «geliebt werden» verstehen. Für ihn lautet die wichtigste Frage nicht «Werde ich geliebt?», was gleichbedeutend ist mit «Werde ich auch anerkannt?» – «Werde ich beschützt?» – «Werde ich bewundert?», sondern: «Kann ich überhaupt lieben?». – «Zu lieben und sozusagen ‹in der Liebe zu verharren› (in der Seinsliebe sein) ist etwas Schwieriges – wenn es auch nichts Übermenschliches von uns verlangt, sondern in Wirklichkeit die wesentlichste menschliche Eigenschaft darstellt.»
Und weshalb ist das so schwierig?
Weil nur noch wenige mit der Urerfahrung des Geliebtwerdens in Verbindung stehen.
Dankbarkeit
These:
Die Lebensfreude entspricht der primären Erregungsliebe.
Aus ihr entsteht Dankbarkeit gegenüber der Existenz.
Mit der Dankbarkeit geht es uns ähnlich wie mit der Nächstenliebe, sie ist meist kein spontaner Impuls, wir empfinden sie als Verpflichtung. Unser Verhältnis zur Dankbarkeit ist gestört, weil sie nicht von Herzen – aus dem Primärselbst – kommt.
Erlebe ich den Grundzustand der Seinsliebe, so ist der Boden für die Dankbarkeit gut vorbereitet. Wenn zusätzlich die Erfahrung der primären Erregungsliebe, die eigentliche Freude, das frohlockende Lusterlebnis, hinzukommt, so kann ich nicht anders als dankbar sein für alles, den Menschen gegenüber, die diese Freude mit mir teilen, der Welt gegenüber, die in so reicher und überschwenglicher Weise ihr Füllhorn über mich ausschüttet, und schliesslich vor allem mir gegenüber, meinem Leben, das es mir möglich macht, diese Daseinsfreude zu erleben.
Diese mit dem Urvertrauen in Zusammenhang stehende Dankbarkeit ist eine Grunderfahrung, die auch im Angesicht des realen Leides in der Welt nicht verblasst.