Definition Seinsliebe

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Die Seinsliebe als Basiszustand

Der sich in Ruhe befindliche, unermesslich tiefe und weite Ozean ist eine gute Metapher für den «Zustand» der Seinsliebe. «Zustand» setze ich deshalb in Anführungszeichen, weil das Wort in diesem Zusammenhang missverständlich ist. Der homöostatische Basiszustand der Seinsliebe ist nicht statisch. «Seinsprozess» wäre dem Sinn nach richtiger, wirkt aber zu sachlich, erfasst nicht den emotionalen Bedeutungsgehalt.

Beobachtungen der Säuglingsforscher haben gezeigt, dass der normale Säugling während 98 – 99,5 Prozent des Vierundzwanzigstundentages ruhig und zufrieden verbringt. In den ersten drei Lebensmonaten beschränken sich die Zeiten starker, negativer Affektspannung etwa bei heftigem Schreiben auf 7 – 29 Minuten im Tag.

Der Basiszustand der Seinsliebe entspricht auch dem, was BALINT mit der harmonischen Verschränkung der primären Liebe bezeichnet hat. Es ist ein Zustand, dessen Vorhandensein zwar registriert wird, auf den der Säugling aber erst bei dessen Fehlen reagiert.

Sich selbst lieben können

Mit grosser Wahrscheinlichkeit bezeichnet GERDA BOYESEN, wenn sie von Libido-Fluss spricht, dasselbe Phänomen:
«Der freie Libido-Fluss hat zur Voraussetzung, dass die Person sich selbst lieben kann und in jedem Moment die Liebe in sich selbst und nicht nur ausserhalb von sich zu spüren vermag…. Jedes Lebewesen, bis hinab zum Einzeller, wird mit seinem autonomen Libido-Fluss geboren, und das Hauptziel meiner Therapie ist es, den Patienten damit wieder in Kontakt zu bringen, d. h. ihm zu seinem eigenen inneren Glück zu verhelfen.»

Seinsliebe: der gute Grundzustand des Säuglings

WINNICOTT weist ebenfalls auf die Notwendigkeit der «Kontinuität des Seinsgefühls» hin, das für eine gesunde Entwicklung des Kindes von zentraler Bedeutung ist. Dieser «gute» Grundzustand löse wohl das Lächeln beim Neugeborenen aus.

Für mich ist es der Zustand des Primärselbst: Der gute Grundzustand entspricht der Selbstliebe, das Lächeln ist Ausdruck der Erregungsliebe – ich werde später vertieft darauf eingehen.

Auch als Erwachsene können wir in den Zustand des Primärselbst eintreten. Das unterscheidet sich stark von unserer Alltagserfahrung; es bestehen enge Beziehungen zu Trance, Traum und anderen veränderten Bewusstseinszuständen.

Vom natürlichen zum göttlichen Kind

Das natürliche Kind ist als Same und Potential eines jeden Menschenkindes zu betrachten. Als Alpha und Omega der Menschwerdung wurde es als göttliches Kind zum Symbol und Hauptdarsteller ungezählter Mythen: ausgesetzt auf einem Fluss oder auf dem Meer und wundersam bewahrt wie Moses, umsorgt in einer Krippe wie das Jesuskind; mit vollem Bewusstsein geboren wie Buddha.

Diejenigen, die auf der Ebene der Zen-Realität zurück zur Seinsliebe und zur Offenheit des natürlichen Kindes finden, werden als zweimal Geborene bezeichnet.

Inwieweit das natürliche Kind im Zustand des Primärselbst tatsächlich existiert und nicht einfach einem Wunschbild des frühen Paradieses entspricht, ist offen. Die moderne Säuglingsforschung erlaubt aber meines Erachtens Hypothesen in dieser Richtung.

Seinsliebe – paradiesischer Zustand oder naives Hirngespinst?

In der Kontroverse zum Thema finden wir auf der einen Seite die konservativen Wissenschafter, die diese Vorstellung möglicherweise in die Kategorie der «naiven Hirngespinste neoromantischer Weltverbesserer» einordnen.

Den Gegenpol belegen die Anhänger der Reinkarnationslehre, die in diesen Ahnungen von paradiesischen Zuständen noch eine Phase in Betracht ziehen, in der ein Wesen – zwischen den einzelnen Inkarnationen – in homöostatischer Schwebe verharrt.

Jeder Mensch sucht Seinsliebe

Persönlich bin ich der Überzeugung, dass das natürliche Kind im Zustand der Seinsliebe zwar nicht für alle Menschen zur ungetrübten frühen Lebenserfahrung gehört, weil für manche die Umstände bereits im Fötalstadium beziehungsweise in der frühen Kindheit allzu bedrohlich und konfliktbeladen waren, dass aber eine Sehnsucht nach diesem Zustand bei jedem Menschen bewusst oder unbewusst vorhanden ist, was ich als Ausdruck einer erahnten Realität verstehe.

Ohne diesen Seelendurst, ohne dieses zentrale psychische Bedürfnis ist weder die Geschichte der spirituellen noch diejenige der kulturell-ästhetischen Entwicklung der Menschen verstehbar.

Unbewusste und bewusste Seinsliebe als theoretische Grundsatzfrage

Hinter der Frage, ob es eine bewusste Seinsliebe überhaupt geben kann, verbirgt sich ein Hauptproblem dieser Schrift. Einerseits sprechen die meisten Hinweise dafür, dass die Seinsliebe des Primärselbst einem frühen, subkortikalen Zustand entspricht.

Andererseits ist Bewusstsein in der wissenschaftlichen Welt klar mit dem Cortex, also mit Leistungen die vor allem in der Rinde des Neuhirns ablaufen und die weitgehend unser Sekundärselbst charakterisieren, verknüpft; Seinsliebe und Bewusstsein scheinen unvereinbar.

Anders formuliert, lautet die Frage:
Gibt es neben unserem Alltagsbewusstsein – auf dem wissenschaftliche Untersuchungen basieren – eine Form von Bewusstsein, die auch veränderte Bewusstseinszustände umfasst?

Seinsliebe ist nicht auf ‘das Ich’ bezogen

Ich erachte die Hypothese eines aperspektivischen, nicht auf das Ich bezogenen Bewusstseins, das vor allem im Zustand der Zenrealität erfahrbar ist, als einen fruchtbaren Ansatz. Er liegt meinem Gefühlsmodell zu Grunde.

Ohne mich auf eine weltanschauliche Diskussion einzulassen, vertrete ich die Ansicht, dass genügend Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es diese zweite Form von Bewusstsein gibt, die nicht unmittelbar mit den wissenschaftlich anerkannten kortikalen Prozessen in Beziehung steht. Sie hängt zusammen mit dem Begriff der immer wieder totgesagten Seele.

Seinsliebe und Meditation

Wenn der Begriff Meditation im «Duden» mit so unterschiedlichen Stichwörter wie Nachdenken, sinnende Betrachtung und religiöse Versenkung umschrieben wird, so enthält das Wort offensichtlich verschiedene Bedeutungsaspekte. Insbesondere ist Nachdenken aus östlicher Sicht genau das, was Meditation nicht ist, nämlich eine Angelegenheit des Denkens, des Sich-mit-Gedanken-Beschäftigens.

Da wir als in der westlichen Kultur Aufgewachsene kaum fähig sind, uns Meditation im Sinne östlicher Traditionen vorzustellen, geschweige denn zu erfahren, zeigt sich – im Versuch, Meditation zu erklären – ein grundsätzliches Problem. Ich werde deshalb zuerst die vertrautere Form der religiösen Versenkung sowie einen damit verwandten Willensakt ansprechen, die Kontemplation und die Willenskontrolle.

Ist Seinsliebe mit psychischer Anstrengung zu erreichen?

Durch eine bewusste Willensanstrengung im Rahmen von Praktiken/Übungen wie der kontemplativen Konzentration auf ein eng umschriebenes Thema oder im Sinne des auf ein sportliches Ziel ausgerichteten Mentaltrainings, gelingt es mehr oder weniger erfolgreich, die körperlich-psychische Energie gezielt auf einen gewünschten Bereich zu beschränken und damit deren Wirkung zu maximieren. Die dafür notwendige Willenskraft setzt allerdings ihrerseits intensive psychische Energie voraus, mit der «natürliche Ausgleichssysteme» im Schach gehalten werden.

Häufig wird es dabei notwendig, zunehmend psychische Energie für den Widerstand gegen die spontan sich ergebende Erregungsliebe oder für deren Sublimierung für den Prozess des Nicht-für-wahr-haben-Wollens, einzusetzen. Dies gilt weniger für sportliche Ziele – weil dort mit dem körperlichen Ausdruck immer wieder Energien freigesetzt werden – sondern vor allem im inneren Kampf gegen negative oder gar als böse gewertete Vorstellungen und Wünsche.

Trotz verbissenem Widerstand wird damit die Gefahr eines Versagens immer grösser: Wie einfach ist es für den «inneren Versucher», sich in nächtlichen Träumen in Erinnerung zu rufen! Durch gnadenlose Selbstgeisselung haben Unentwegte immer wieder versucht, die ungerufenen Schattengestalten los zu werden.

Dr. Kurt Eugen Schneider
Dr. Kurt Eugen Schneider

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