Abgesehen von der frühesten Kindheit lebt der Mensch nie mehr über längere Zeit im Zustand der Seinsliebe. Im Laufe seiner Entwicklung ändert sich das Liebeserleben von der Seinsliebe und der primären Erregungsliebe zur Zweckliebe und zur sekundären Erregungsliebe. Ich unterscheide drei Phasen.
Die drei Phasen in der Liebe
Die erste Phase der unbewussten Seinsliebe
Die unbewusste Seinsliebe spielt sich – relativ günstige Umstände vorausgesetzt – im Rahmen des Primärselbst vorwiegend innerhalb der diadische Intimbeziehung zwischen dem Fötus/Säugling und seiner Mutter ab.
Vor und kurz nach der Geburt befindet sich das Kleinkind idealerweise noch im Einklang mit seinem Primärselbst. Es erlebt den Zustand der Seinsliebe als Kontinuum und nach der Geburt zunehmend auch lustvolle Wellen der primären Erregungsliebe.
Inwieweit bereits in der Gebärmutter indirekte Einflüsse die Gemütslage des Fötus beeinflussen, ist noch nicht erwiesen, aber wie ich bereits ausgeführt habe, ist eine Beeinflussung anzunehmen. Insbesondere die Untersuchungen von Alessandra Piontelli eröffnen diesbezüglich neue Einsichten. Wir müssen annehmen, dass sowohl indirekte Einflüsse über entsprechende mütterliche Hormone und Transmittersubstanzen, als auch unmittelbare Erfahrungen den Fötus beeinflussen können. Dazu gehört auch die Möglichkeit, das elterliche Liebesleben als sekundäre oder – idealerweise – als primäre Erregungsliebe unmittelbar mitzuerleben.
Je früher die Sozialisation einsetzt, um so früher und um so stärker wird das Primärselbst durch das fremdprogrammierte Sekundärselbst, die primäre Seinsliebe durch die Zweckliebe und die primäre Erregungsliebe durch die verwirrende sekundäre Erregungsliebe ersetzt.
Die zweite Phase der sekundären Erregungsliebe
(des Sekundärselbst)
Hier unterscheide ich zusätzlich noch drei von den Sozialisationsbedingungen abhängige Subphasen:
- In der frühen Experimentierphase, das heisst bis zur abgeschlossenen Adoleszenz, baut sich eine überschiessende Bewegungsfreude und -lust auf, die zunehmend mit sexueller Energie verschmilzt. Diese sucht und findet im Idealfall passende Kanäle, um sich zu verwirklichen. Mit den durch die Pubertät bedingten hormonellen Umstellungen wird die Rollenverteilung innerhalb der Geschlechter deutlich.
Das Experimentierbedürfnis steht allerdings für viele Jugendliche in Konkurrenz zu den Notwendigkeiten, die die Sozialisierung von ihnen verlangt, insbesondere von den Ansprüchen des Sekundärselbst. Dabei ist es vor allem die Betonung des Rationalen, die dazu führt, dass sich der Jugendliche in einer Phase, in der er mit Körpererfahrungen experimentieren möchte, dem Körper zunehmend entfremdet.
Viele schaffen es ihr Leben lang nicht, die verschiedenen Bedürfnisse und Interessen in einem guten Kompromiss zu integrieren; sie sind stets in Gefahr, ihre ungestillte Sehnsucht mittels Suchtmitteln und süchtigem Verhalten zuzudecken. - Im Erwachsenenalter muss immer mehr Erregungs- und Bewegungsenergie zur Bewältigung der Notwendigkeiten des Alltags in Beruf und Familie eingesetzt werden; Fähigkeiten des Sekundärselbst werden mehr denn je gefordert.
In den «besten Jahren» hat die eigentliche Sexualenergie ihren Höhepunkt bereits überschritten. Gelingt es nicht, die Lücke durch vermehrtes sich (Wieder-)Einlassen auf die Seinsliebe zu füllen, besteht die Tendenz, das Vakuum zunehmend durch Machtansprüche zu kompensieren. Auf dieses Ersatzverhalten verfallen vorwiegend Menschen, denen in der kindlichen Frühphase eine glücklich-unbeschwerte Verbindung zur Mutter, aber auch zum Vater verwehrt geblieben ist.
Innerhalb dieser Phase ist der Orgasmus eine kritische Schnittstelle: Er steht einerseits mit dem Unbewussten und den Instinkten in Beziehung, andererseits vermittelt er auch eine Ahnung von spirituell-kosmischen Bereichen. Es entsteht eine intensive – mehr oder weniger bewusst erlebte – Verbindungen zur Seinsliebe. - In der an die Fortpflanzungsphase anschliessenden Konsolidierungs- und Reifungsphase kommt – wenn Offenheit dafür besteht – neben der Zweckliebe immer häufiger die Seinsliebe mit Qualitäten des Primärselbst zum Tragen, die in der folgenden dritten Phase eine zentrale Rolle spielen.
Die dritte Phase der bewussten Seinsliebe
Diese Phase ist «fakultativ» und keineswegs selbstverständlich. Während in der ersten Phase der diadische Bezug zur Mutter im Zentrum steht, orientieren wir uns in der zweiten Phase vor allem an den Bedürfnissen der Biologie und der Gesellschaft. In der dritten Phase – Jung nennt sie zweite Lebenshälfte – wenden wir uns, sofern wir dem Lebensrhythmus folgen, immer stärker nach innen.
Zunehmend wird das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung aktuell. Wir erweitern unsere bewusste Persönlichkeit durch die Integration von all den Anteilen, die bis anhin ausgeschlossen waren. Dieser Prozess ist allerdings mühsam. Wer nicht an den Kompromissen, die die Entwicklung des Sekundärselbst – über die Selbstentfremdung – erforderten, leidet, hat wenig Veranlassung, diesen mühsamen Weg zu gehen.
Jung hat es treffend ausgedrückt:
«Ohne Not verändert sich nichts, am wenigsten die menschliche Persönlichkeit. Sie ist ungeheuer konservativ, um nicht zu sagen inert. Nur schärfste Not vermag sie aufzujagen. So gehorcht auch die Entwicklung der Persönlichkeit keinem Wunsch, keinem Befehl und keiner Einsicht, sondern nur der Not; sie bedarf des motivierenden Zwanges innerer oder äusserer Schicksale.»
Er sagt aber auch:
«Die Entwicklung der Persönlichkeit ist ein solches Glück, dass man es nur teuer bezahlen kann.»
Die Gnade von Seinsliebe
Gelegentlich überrascht uns die Erfahrung der bewussten Seinsliebe als unerwartetes Wunder, wie eine Botschaft aus einer anderen Welt. Wir erleben eine Vision von noch nie geschauter Mächtigkeit, eine Begegnung mit den Schönheiten der Natur, zu der wir seit vielen Jahren keinen lebendigen Bezug mehr hatten.
Meist werden solche blitzartigen Erleuchtungserfahrungen nach kurzer Zeit verdrängt, ohne dass ihrer Bedeutung Rechnung getragen wird. Vermag ich solche Erfahrungen zu integrieren, so gelingt mir der Überstieg von der sogenannten Hauptrealität des Sekundärselbst zur wiedergefundenen Realität des Primärselbst. Dies entspricht einem Prozess der persönlichen Reifung, der nicht bewusst angestrebt wird, der sich von selbst ergibt.
Ich habe der Maslowschen Bedürfnispyramide für das Bedürfnis, die Ichgrenzen zu überschreiten, transzendente Erfahrungen zu machen und damit auf einer bewussten Ebene zum Primärselbst zurückzukehren, eine sechste Ebene hinzugefügt. Häufig ist eine grosse Lebenskrise die treibende Kraft, wenn alles sich verdunkelt, mitten im Leben kein Sinn mehr zu sehen ist, wenn der altvertraute Halt plötzlich verlorengeht und lebenslange Träume und Sehnsüchte sich als illusorisch erweisen. Damit, über den sogenannten Leidensdruck, erklärt sich wohl der Weg der Mystiker und Mystikerinnen aller Kulturen. Für sie ist die Erfahrung der bewussten Seinsliebe nicht mehr unerwartet, aber auch sie erleben sie meist überraschend als Gnade.
Sehnsucht nach dem Göttlichen
Seit Jahrtausenden haben Menschen ihr Leben bewusst der Erreichung dieses Zustandes gewidmet und dadurch nachträglich ihr Geburtsrecht eingefordert. In der Mehrzahl waren es Einzelgänger: Asketen, Einsiedler, Nonnen und Mönche der verschiedensten Religionen, die in Meditation, im Gebet und vor allem auch im Verzicht auf sinnliche Lust ihre Sehnsucht nach dem Göttlichen befriedigen, ihr «Seelenheil» zu finden hofften.
Die asketischen Tendenzen haben mehrere Gründe: Das Begehen des spirituellen Weges erfordert ein so hohes Mass an Hingabe, dass die Ablenkung durch die biologischen Zwänge als äusserst störend erlebt wird.
Diese enorme Schwierigkeit, sich den Impulsen des Lebens zu verschliessen, führt andererseits dazu, dass sich der Verstand von dieser anspruchsvollen Aufgabe ganz besonders gefordert fühlt, ganz abgesehen davon, dass die Mehrzahl der religiösen Traditionen Keuschheit als besonders erstrebenswertes Ziel betrachtet, was den sozialen Druck zusätzlich erhöht. Trotzdem ist es wohl die schwierigste aber auch erfüllendste Erfahrung für Suchende, wenn sie nicht nur die Seinsliebe erfahren, sondern wenn ihnen – jenseits der Askese – auch die bewusste Integration der Erregungsliebe gelingt. Dabei werden ekstatische Verzückungen bewusst erlebt, die nicht in Worte zu fassen sind.
Selbstbezogenheit kann die Paarbeziehung unterstützen
Diese Phase ist auf heilsame Weise selbstbezogen. Die Betroffenen sind nicht mehr auf Mit-Liebe angewiesen und deshalb auch nicht, über die Zweckliebe, auf einen Partner fixiert, denn in dieser Phase nehmen wir Bezug auf das Ganze. Trotzdem, oder wahrscheinlich gerade deswegen, können damit sehr innige Paarbeziehungen verbunden sein.
Die Erfahrung nicht nur der bewussten Seins- sondern auch der bewussten primären Erregungsliebe wurde in gewissen östlichen spirituellen Traditionen institutionalisiert. Dem Tantrismus und Taoismus ist es gelungen, über die sexuelle Intimität in der Paarbegegnung Stufen der bewussten Seinsliebe bis hin zur bewussten Integration der primären Erregungsliebe – als höchste Form ganzheitlichen Seins – erfahrbar zu machen: Die Erfahrungen der Seinsliebe werden «in einer Form der Meditation» mit denjenigen der Erregungsliebe verbunden.
Die Paarbeziehung in der Phase der sekundären Erregungsliebe
Fassen wir den Begriff Treue als Mass für die Dauer einer befriedigenden Beziehung zwischen zwei Menschen auf, so ist, unabhängig von den ebenso entscheidenden materiellen, interessemässigen Gemeinsamkeiten, wie sie Jürg Willi betont, die Phase, in der sich die Partner befinden, entscheidend und vielleicht sogar ausschlaggebend.
In der Experimentierphase (der zweiten Phase der Liebe) geht es darum, die Energien und Freuden der Erregungsliebe zu erfahren. Treue ist weniger gefragt als die Möglichkeit nach Abwechslungen und neuen Erfahrungen. Entscheidend ist nicht das Integrationspotential der noch unbekannten eigenen Schattenseiten im anderen, sondern biologische Faktoren und die Persönlichkeitsstruktur. Gegensätze ziehen sich an.
Untersuchungen zum biologisch geförderten Seitensprung
Der biologische Druck zum Seitensprung darf weder bei Männern noch bei Frauen unterschätzt werden, wenn dafür auch verschiedene Ursachen angeführt werden:
Männer müssen ihre Erbmasse möglichst breit streuen.
Den Frauen ist dagegen daran gelegen, dass sie die wenigen Gelegenheiten, bei denen sie erfolgreich eine Schwangerschaft austragen können, mit optimalem Erbgut versehen, notfalls auch mit demjenigen des Nachbarn – wie das durch DNS-Kontrollen an scheinbar strikt monogamen Vogelarten nachgewiesen worden ist. Dafür sind die gehörnten Männchen äusserst eifersüchtig und schenken der fremden Brut geringe Aufmerksamkeit. Tiger und Mäuse schrecken nicht davor zurück, junge Bastarde aufzufressen.
Die Bedeutung des Geruchsinns
Die «optimale» Wahl hat nach Untersuchungen, die an der Universität Bern durchgeführt wurden einen überraschend klaren Bezug zu einem möglichst unterschiedlichen Immunabwehrsystem. Die Auswahl treffen vorwiegend die Frauen über ihr hochdifferenziertes Geruchswahrnehmungssystem, das anhand des Körpergeruches eines Mannes entscheidet, ob er der Richtige ist oder nicht. Testkontrollen ergaben, dass sexuell besonders attraktiv weitgehend immungenetisch stark variierend bedeutet.
Neben diesen verborgenen Kriterien gibt es auffällige Imponiermerkmale, die auf das Vorhandensein einer wirksamen Immunabwehr hinweisen. PATRICIA GOWATY hat nachgewiesen, dass ein möglichst kompliziertes Ritualverhalten oder besonders aufwendiger Schmuck bei Tieren besonders gefragt sind, weil sie einerseits auf hohe Intelligenz, andererseits auf eine besonders ausgeprägte Potenz hinweisen.
Letztere ist in diesen Fällen so hervorragend, dass es sich diese Machos leisten können, trotz der mit dem hohen Testosteronspiegel verbundenen verminderten immunbiologischen Abwehr enorme Energien völlig «unnötig» zu verschwenden, eben «nur, um ihrem Weibchen, ihrer Freundin Eindruck zu machen».
Womit endlich wissenschaftlich erklärt wäre, weshalb Hirsche ein zentnerschweres Geweih mit sich herumschleppen, Amseln die differenziertesten Melodien erfinden, oder weshalb ganz normale Männer unbedingt ihren Lamborghini zum nahen Golfplatz und natürlich auch zum vielleicht etwas entfernteren «One-Night-Stand» fahren müssen.
Dieser männlichen Elite winkt der Siegerkranz; Zeugungskraft tendiert zum seitensprünglichen Verhalten. Ganz im Gegensatz zur sozial geschätzten sorgenden (Dauer-)Vaterschaft, für die auf Grund der eben erwähnten Untersuchungen vor allem die «Lieben und Netten» von der Frau bevorzugt werden. So hat es für jeden und jede etwas, auch wenn diejenigen, die säen, nicht unbedingt diejenigen sind, die ernten.
Seitensprünge: kurzfristige Erregung zur Abwechslung
Menschen, und insbesondere Männer kennen einen weiteren Grund für die grosse Versuchung: Die Erregungsliebe lebt von der kurzfristigen Erregung und von der Abwechslung.
Untersuchungen an Männern mit Potenzstörungen zeigen, dass «Erektionsversagen» durch die Beziehung zu neuen Partner/innen «geheilt» wird. Auch dieses Verhalten konnte physiologisch erklärt werden; es steht – zumindest bei Rattenmännchen – im Zusammenhang mit dem Dopaminspiegel (DENNIS FIORNO).
Während die Ausschüttung im Bereich der für die Lust verantwortlichen Areale im Mittelhirn mit zunehmender Kopulation (mit demselben Weibchen!) rasch zurückgeht, ging die männliche Dopaminausscheidung beim Auftauchen einer neuen brünstigen Partnerin schlagartig in die Höhe, gleichzeitig mit einer Wiederbelebung der versiegten Kopulationsintensität.
Auch Frauen leben durch einen «neuen Frühling» seelisch wie körperlich auf.
Die im Körper verankerten positiven Erfahrungen aus der ersten Subphase, der adoleszenten Experimentierphase erlauben es in der zweiten Subphase (der gesellschaftlich aktiven Erwachsenenrolle), immer wieder darauf zurückzugreifen, als «Salz und Pfeffer» einer in Familienpflichten und Arbeit eingebundenen Beziehung. Wer allerdings versucht, sich ein Leben lang von Salz und Pfeffer zu ernähren, wird verhungern.
Heilung einer Partnerschaft durch die Seinsliebe
In der dritten Phase geht es darum, die Qualitäten der Seinsliebe zu entwickeln. Gelingt das nicht, so dürfte das Aus für die Beziehung, zumindest einer emotional gesunden Beziehung, vorprogrammiert sein.
These:
Je besser zwei Menschen zu ihrer Seinsliebe finden, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich nicht gegenseitig überdrüssig werden.
Haben zwei Partner diese Harmonie erlebt und stimmen ihre kulturellen und gesellschaftlichen Interessen zumindest teilweise überein, so sind die besten Voraussetzungen nicht nur für Treue, sondern auch für Heilung im Rahmen der Paarbeziehung gegeben.
Sollte es zu einer Trennung kommen, so wird es für beide nicht einfach sein, wieder jemanden zu finden, mit dem eine ebenso tiefe und erfüllende Beziehung zustande kommen kann.
Die Tatsache, dass die Scheidungszahlen auch im fortgeschrittenen Alter so hoch sind, weist darauf hin, dass nicht nur in der Experimentierphase und beim Eheschluss Äusserlichkeiten entscheidend sind, sondern dass es die Partner auch in langjährigen Ehen versäumen, die Seinsliebe zu pflegen und zu fördern.