Die Notwendigkeit der sozialen Anpassung
SIGMUND FREUD hat die Sozialisierung nie in Frage gestellt. Eine Bewusstseinsentwicklung des Menschen ohne vorangehende Sozialisierung ist nicht denkbar, da er immer Individuum und soziales Wesen ist. Nur im Gegenüber eines anderen kann sich der Mensch als anders, als Individuum erfahren. Der Preis, den wir sowohl als einzelne wie auch als Spezies dafür entrichten müssen, ist aber hoch: Ohne Liebesentzug, auch wenn dieser nur die gerade notwendigen Einschränkung der kindlichen Autonomiebedürfnisse zugunsten seiner Umwelt betrifft und keineswegs in schikanöser Dressur oder Gefühlsmanipulation besteht, ist die Erziehung zum sozialisierten Erwachsenen nicht möglich.
VIRGINA DEMOS hat aufgezeigt, wie wichtig gewisse Frustrationserfahrungen mit den damit verbundenen negativen Gefühlen für den Säugling sind. Erst durch sie erlernt er eine vielfältig einsetzbare Gefühlskompetenz – und damit auch Liebesfähigkeit – im partnerschaftlichen Umgang. Die in meinen Ausführungen enthaltene Kritik an der Sozialisation richtet sich nicht grundsätzlich gegen diese, die zur Condition humaine gehört, sondern gegen die Auswüchse in unserer westlichen, fast ausschliesslich rational bestimmten Leistungsgesellschaft.
Veränderung der Schmerzerfahrung | Reaktion auf psychischen Schmerz | |
---|---|---|
Stufe IV | ↑ völlig verdrängte Sehnsucht nach Liebe | ↑ KONSUM, – SÜCHTE – Workalkoholismus, Besitz-, Geld-, Macht-, Sexgier – Eifersucht |
Stufe III | ↑ Schuld-/ Schamgefühle | ↑ VERACHTUNG – Unterdrückung – Sadomasochismus |
Stufe II | ↑ psychische Sekundärängste psychische Sekundärwut | ↑ DEPRESSION – Panik – Suizid GEWALT – Rache/Hass – Mord/Suizid |
Stufe I | ↑ psychischer Sekundärschmerz / Kränkung | ↑ psychische Sekundärängste und Sekundärwut |
Vorstufe I (unbewusst, verdrängt) | ↑ psychischer Primärschmerz (Urschmerz) | ↑ Fight-or-Flight-Verhalten |
Die Stufen sozialer Anpassung, die ich hier darstelle, fassen den bereits thematisierten Prozess zunehmender Entfremdung vom Primärselbst durch die «Vertreibung aus dem Paradies» und den Verlust der Seinsliebe nochmals zusammen. Dargestellt sind die negativen Folgen der Sozialisierung, sozusagen die Pathologie unserer Gesellschaft, die Ausdruck ist einer sich verstärkenden Tendenz, psychischen Schmerz zu vermeiden. Letztlich geht es um die Unfähigkeit, das Leben in seiner Ganzheit zu akzeptieren.
Die Stufen I-III der untenstehenden Tabelle sind mit der Erfahrung des psychischen Sekundärschmerzes (der Kränkung) verknüpft und in allen Kulturen, seien sie archaisch oder modern, zu finden. Durch verstärkte gesellschaftliche Einflüsse und die dadurch notwendige stärkere Verdrängung sowie durch die Vermischung mit den geschlechtsspezifischen Bedürfnissen und Gegebenheiten der Erregungsliebe werden die Abwehrstrategien immer komplexer.
Aus der naturnahen Erfahrung des psychischen Primärschmerzes und der ebenfalls instinktnahen Reaktivebene (Primärangst und Primärwut) – entsprechend den Primärgefühlen, die Säuglinge ausdrücken -, verschieben sich die Gefühle über diverse Sozialisierungsschritte in den Bereich des psychischen Sekundärschmerzes durch Kränkung. Unter neurotisierenden Bedingungen ergeben sich aus Sekundärangst und Sekundärwut die Reaktivformen Depression und Gewalt.
Auf der Grundlage der zunehmenden Anpassung an die gesellschaftlichen Forderungen und der zunehmenden Internalisierung von Geboten und Verboten entwickeln sich Scham- und Schuldgefühle; der Verdrängungsmechanismus tritt verstärkt in Funktion, Kränkungen werden mit Hilfe von Projektionen sozial anerkannt (Verachtung, Fremdenhass usw.) resp. nicht anerkannt (Sadismus, Masochismus usw.) fremd- bzw. selbstschädigend angegangen.
Typisch für unsere sogenannte hochentwickelte Gesellschaft sind Ersatzbefriedigungen: Süchte aller Art. Eine Suchtform, der in der globalisierten Informationsgesellschaft neben der Konsumwut immer grössere Bedeutung zuzukommen scheint, ist der Workaholismus, jene selbstzerstörerische Arbeitsform, die sich, von den USA her kommend, gerade auch unter den Jungen in Europa immer stärker zu verbreiten scheint (POPPELREUTER) – Arbeit als sozial anerkannter Ersatz für Liebe, als eine legale Sucht, die Passivität erzeugt: Es erfolgt keine Auflehnung gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, sondern eine Identifikation mit dem Unterdrücker, wie das WILHELM REICH beschrieben hat.
Zum Workaholismus gehören mittelbar die Verschiebung des Liebesbedürfnisses ins Materielle, die versuchte Selbstbestätigung durch Exzesse im Bereich Besitz, Geld, Konsum und Sex.
Rückkehr zur Seinsliebe?
DORNES schreibt über den «kompetenten Säugling»: «Wie ist es nun möglich, dass aus dem stimmgewaltigen Kleinkind, das sich voll Selbstvertrauen für ‹seine Rechte› einsetzt, verunsicherte kleinmütige Erwachsene werden, die ‹ihrer Sache nicht mehr sicher sind›, ‹Grosse›, die es nicht wagen, sich ‹für sich› einzusetzen?»
Tatsächlich «spürt» wohl jeder zutiefst, dass es beispielsweise mit der Umwelt nicht zum besten bestellt ist; aber sich offen für eine gesunde Luft und für sauberes Wasser zu wehren, verbietet, in Anbetracht der zu erwartenden Folgen, der gesunde Menschenverstand.
Uns für etwas einzusetzen, von dem wir überzeugt sind, das aber nicht mit sozialer Anerkennung verbunden ist oder gar auf Opposition stösst, ist eine Eigenschaft, die uns Erwachsenen immer schwieriger zu fallen scheint, je anonymer und je abstrakter die Kräfte sind, gegen die wir uns zur Wehr setzen müssten.
Versuchen wir zur Ursprungserfahrung, zur Seinsliebe zurückzukehren, so erschwert nicht nur das komplizierte System von Verdrängungen unser Vorhaben. Auch unsere Umgebung, all die gesellschaftlich gut Angepassten, wohlmeinende Freunde und nicht zuletzt unsere Angehörigen versuchen mit allen Mitteln, uns bei der Stange zu halten.
Wer sich bisher auf unseren guten Charakter verlassen hat, will sich nicht plötzlich mit unerwarteten neuen Verhaltensweisen und mit Widerständen herumschlagen.
Die Nachteile eines unangepassten Verhaltens sind nicht zu übersehen: Sollte ich nicht nur mir selbst mehr Freiheit nehmen, sondern mich auch dafür einsetzen, dass andere – Menschen, Tiere bis hin zur geschändeten Natur – nicht mehr hemmungslos ausgebeutet werden, so würde ein Konsequenzenkarussellin Gang gesetzt, dessen Dominoeffekt zum Teil voraussehbar beunruhigende, zum Teil unvorhersehbare Wirkung entfalten könnte. Daher beugen wir uns lieber den Sachzwängen.
Zudem bedeutet das Annehmen des Verdrängten die Auseinandersetzung mit abgelehnten Seiten unserer Persönlichkeit. Möglicherweise tauchen unangenehme Erinnerungen auf, die den Zugang zur ursprünglichen Erfahrung erschweren. Wohl nicht zuletzt deshalb – aus der nicht unbegründeten Angst heraus, dass die heraufbeschworenen Geister nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden könnten – hat die Psyche ein ganzes Arsenal von Schutzmechanismen gegen die Regression, d. h. gegen das Zurückkehren zu den psychisch schmerzhaften Ursprüngen der Verdrängung entwickelt.
In einer Scheinwelt, in der Projektionen und vorgefasste Meinungen unser Verhalten bestimmen, ist dem einzelnen eine Überprüfung der durch diese äussere Realität vorgegebenen Muster und Normen kaum mehr möglich; er/sie verhält sich konform. Dies führt zu einer zweiten Konsequenz, die sich an den Kriegen ablesen lässt, die im Verlauf der menschlichen Geschichte für und gegen irgendwelche Ideologiengeführt worden sind.
Jugoslawien bietet dazu ein Beispiel, der Nahe Osten ist ein Dauerbrenner dieses kollektiven Wahnsinns. Mit vorgefassten Meinungen, legitimiert durch das Wertesystem der Gesellschaft, lassen sich Erziehungsmethoden, die bekannterweise psychische Schädigungen erzeugen, wie auch die Machtspiele innerhalb von Beziehungen rationalisierend rechtfertigen. Redewendungen wie «Wer seine Kinder liebt, der züchtiget sie» oder «Ich bin meinem Vater heute noch dankbar, dass er mich tüchtig geprügelt hat» sind Beispiele kollektiv überlieferter Überzeugungen, die ohne Hinterfragung als Rechtfertigungen ins Feld geführt werden.
Ob durch Überanpassung oder durch Machtausübung, über Süchte oder Konsum, mit allen Mitteln versucht der Mensch eingestanden oder uneingestanden Liebe von aussen zu bekommen, resp. die Sehnsucht nach der Seinsliebe zu vergessen. Auf die Zweckliebe zu verzichten und sich wieder auf die Seinsliebe einzulassen, das erscheint den meisten zu riskant. Umsonst ist aber dieser – urprünglich «normale» – Basiszustand nicht mehr zu haben.