Obwohl Wut und Angst nach MACHLEIDT u. a. im Elektroenzephalogramm nicht in direkt inversem Zusammenhang stehen, ist ihre gegenseitige Beziehung nicht zu übersehen. Die beiden Gefühle sind entweder vermischt, oder sie stehen zueinander in Konkurrenz.
Ähnlich wie zwischen Sekundärschmerz und Trauer besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Wut und Angst darin, dass die Wut zum ausgreifenden aggressiven Handeln drängt, während die Angst (als Reaktion auf denselben Reiz) zu Passivität und Zurückhaltung bis Lähmung führt. Analog zur Sekundärwut können wir auch die Sekundärangst von den entsprechenden Primärgefühlen unterscheiden.
Der Sinn der Angst
Während es im Rahmen moderner Managementstrategien darum geht, wie ich die Angst am besten bekämpfen und damit unschädlich machen kann, betrachtet VERENA KAST als konsequente Schülerin von C. G. JUNG die Angst aus der finalen, zukunftsgerichteten Sicht des Wozu: Was will die Angst von mir? Was gibt es von ihr zu lernen? Welchen blinden Fleck gilt es zu beachten?
Die körperlich wahrnehmbare Behinderung und Einengung meines Lebensgefühls durch Angstgefühle könnte mir den Weg zur Selbsterkenntnis und zur Erweiterung des Bewusstseins zeigen. Die Beengung resultiert aus der Angst vor einem möglichen Verlust und wird noch verstärkt durch das Gefühl, nicht darauf reagieren zu können.
Die Befreiung sieht KAST im Mut zur Hoffnung, im vorwärtsblickenden Wahrnehmen und Verwirklichen des der Angst innewohnenden Sinns. Die häufig als lästig und unwesentlich empfundenen Alltagsängste erlösen wir am besten durch aktives Handeln, indem wir uns einer vielleicht nur subjektiv schwierigen Situation bewusst stellen und durch sie hindurchzugehen wagen.
Eine tiefenfundierte Psychotherapie ermöglicht es, mit dem Sinn stärkerer Ängste in Kontakt zu kommen und die unterdrückten Lebensenergien freizusetzen.
Alltagsängste werden oft verdrängt
Dieser das Bewusstsein erweiternde Ansatz entspricht nicht dem gewohnten Umgang mit Alltagsängsten. Üblicherweise verwenden erfolgreich sozialisierte Erwachsene weniger konfrontative Strategien, um ihren Ängsten zu «begegnen»: Sie werden wegdiskutiert, positiv «übersehen» oder einfach verdrängt.
Da alles Verdrängte die Tendenz hat, sich bemerkbar zu machen, zum Beispiel in nächtlichen Träumen oder in Form von unerwünschten Körpersymptomen, wird damit die Verdrängungskaskade in Gang gesetzt, was in einem Teufelskreis die Ängste respektive Sekundärsymptome noch verschlimmert. Häufig stellen sich Süchte ein; verschiedenste Drogen und Medikamente sollen dann dafür sorgen, dass die Angst nicht ins Bewusstsein dringt.
Für die Existenzialphilosophen wird der Sinn hinter der menschlichen Angst zum Schlüssel ihres Weltbildes: Wenn im Erlebnis der totalen Ungeborgenheit jeder äussere Halt schwindet, werden wir auf uns selbst zurückgeworfen.
Angst – eine grundlegende Emotion
Für die Existentialisten bildet die Angst die grundlegende menschliche Emotion.
«Steht der Mensch vor dem Nichts, dann erlebt er sich auch als absolut einzelnen Menschen, als Menschen, der für diesen Moment nicht in einer Beziehung steht, sondern als einen Menschen, der um seine Individuation besorgt sein muss. Indem man sich aber dieser Angst stellt, bricht Sinn auf.»
KAST weist allerdings auf den Pferdefuss der Existentialphilosophie hin:
«Problematisch bei dieser Sichtweise ist, dass Freude dann letztendlich bloss Abwehr von Angst sein soll … Das wäre aber eine Abwehr des Lebendigen.»
Für mich ist die Betrachtungsweise der Existentialphilosophen ein Hinweis dafür, wohin uns das Beharren darauf, dass die Ebene des Sekundärselbst die einzige menschliche Erfahrungswelt sei, bringen kann und bringen muss: In die lieblos kalte Welt der gedachten Realität.
Die Tatsache, dass jemand selber kein Urvertrauen hat, weil er nicht damit in Berührung gekommen ist oder es durch spätere traumatisierende Erfahrungen «vergessen» hat, ist kein Beweis, dass dieses Urvertrauen nicht existiert.
Wenn die Innen- und die Körpererfahrung als sekundäre Erscheinungen betrachtet werden, bleibt uns unvermeidbar die Verlassenheitsangst als grundlegendes, unerträgliches Gefühl, das, da verdrängt, oft nur noch in körperlichen Verspannungen wahrnehmbar ist. Verstehen wir diese Körpersymptome als Signale einer vorhandenen, aber blockierten Lebensenergie, so schöpfen wir Mut, nehmen die alte Sehnsucht ernst, stellen uns der Angst und suchen einen Weg darüber hinaus, um unser verschüttetes Primärselbst wiederzufinden.
Indem wir zu unserer Angst stehen, auch wenn das von unserem Ich als kränkendes Eingeständnis eines persönlichen Versagens interpretiert werden kann, haben wir bereits viel gewonnen: Wir vermögen uns dem Diktat der Leistungsgesellschaft zu entziehen, indem wir die Verdrängungen auflösen. Indem wir uns der Angst stellen, wird sie fassbar, lässt sie sich näher betrachten und enthüllt ihren verborgenen Sinn.
Verschiedene Formen der Angst
Ähnlich wie Aggressivität elementarer ist als das psychische Gefühl der Primärwut, finden wir die Furcht vor der Primärangst. Furcht ist ein für das Überleben notwendiges Signal; ein Kind, das sich vor nichts fürchtet, wird kaum alt, allzu viele tödliche Gefahren lauern im Verkehr oder im Haushalt.
Neben erlern- und voraussehbaren Bedrohungssituationen, auf die sich situationsgerechte Furcht einstellt, gibt es auch Situationen, in denen die Sinneswahrnehmung ein kognitiv noch nicht klar erfasstes Objekt unverarbeitet direkt an den Mandelkern weiterleitet. Der menschliche Organismus reagiert dabei unmittelbar panikartig.
Diese Form der Panikreaktion scheint angeboren zu sein und wird beispielsweise durch Schlangen blitzartig in uns ausgelöst. Sowohl der Auslöse- wie der Verstärkungsmechanismus scheinen von der später als Sekundärgefühl beschriebenen Panik verschieden zu sein und weitgehend reflexartig abzulaufen. Panik löst eine Fluchtreaktion aus. Im Gegensatz zur Aggressivität, die mir als Handelndem eine gewisse Kontrolle über meine Situation belässt, bin ich jetzt kaum noch handlungsfähig.
Die psychische Primärangst
Das Nicht-zur-Verfügung-Stehen der Bezugsperson wird vom Säugling als lebensbedrohlich erlebt und erzeugt elementare Angstgefühle. Diese erste Erfahrung von Liebesverlust wird bereits präkognitiv im Körpergedächtnis verankert. Es handelt sich um eine Form der psychischen Verarbeitung, die sehr früh einsetzt.
Noch grösser ist die frühkindliche Angst, von der eigenen Mutter umgebracht zu werden; es handelt sich ebenfalls um eine existentielle Urangst des Menschen. Diese Angst beeinflusst gemäss eingehenden Untersuchungen der Juristin und Psychologin ANNEGRET WIESE im Zusammenhang mit Müttern, die getötet haben, auch noch einen überwältigenden Teil der Erwachsenen unbewusst tief.
Abgesehen davon, dass Kindsmord in vielen Kulturen legitim war und in manchen auch heute noch mehr oder weniger stillschweigend toleriert wird – und erst recht in einer Unzahl von Abtreibungen täglich praktiziert wird – ergeben sich aus der vollständigen Abhängigkeit von der mütterlichen Betreuung auf der einen sowie aus der Tatsache der unbewussten Ablehnung des Kindes durch Mütter anderseits genügend Gründe für solche Befürchtungen von seiten des ausserordentlich feinfühligen Säuglings.
Wie für den Schmerz angedeutet, scheinen autistische Kinder auch im Zusammenhang mit der Wirkweise der Angst eine Modellsituation vorzuleben: BRUNO BETTELHEIM weist auf die paradoxe Situation hin, «dass autistische Kinder zwar keinen Schmerz zu fühlen scheinen, dass jedoch ihre Angst vor dem Schmerz fast übermenschliche Energien in ihnen freisetzt». Auf diesen Verlust der Schmerzwahrnehmung komme ich im Zusammenhang mit den Gefühlen als «Package-Deal» zu sprechen.
Der Bezug von Angst zu psychischem Schmerz
Hier interessiert uns speziell der Bezug zwischen Angst und psychischem Schmerz. Die enormen Energien des psychischen Schmerzes können sich, wie bereits erwähnt, in einer masslosen, alles zerstörenden Wut auswirken. Hat sich aber bereits eine gewisse Resignation oder «Einsicht» in bezug auf die lebensgefährlichen Auswirkungen des eigenen Handelns eingestellt, so resultiert eine aufwendig ritualisierte, sich aller lebendigen Tätigkeit entziehende mehr oder weniger aktive Apathie.
Autistische Kinder unternehmen alles, um nicht hören, nicht riechen, nicht sehen zu müssen, respektive um nicht durch irgendwelche äussere Reize zum selbstverderblichen Handeln gezwungen zu werden. Vielleicht zeigen auch hier schwerst autistisch gestörte Kinder ein Verhalten, das eine relativ unverfälschte, ursprüngliche Form der Gefühlsentwicklung darstellt: Neben dem bereits angeführten Extremverhalten von «ohnmächtiger, alles zerstörender Wut», stellt sich bei diesen Kindern schon bald eine übermächtige, das ganze Dasein permanent bestimmende Angst ein, die schliesslich dazu führt, dass sämtliche Kontakte zu Menschen vermieden werden müssen.
Die darunterliegende extreme Aggressivität erscheint wie weggewischt, BETTELHEIM schreibt dazu:
«Die Art und Weise, wie das autistische Kind Beziehung zu anderen total vermeidet, ist gekennzeichnet durch ein Nichtvorhandensein sichtbaren Hasses. Auch lässt sich aus solch offenem Verhalten ein derartiger Hass nicht ableiten, da dieses Verhalten nur eines sichtbar macht: die tiefe Enttäuschung des autistischen Kindes in bezug auf seine Mitmenschen … .
Wieso bin ich meiner Sache so sicher, wenn ich, im Gegensatz zu anderen Autoren, die von der nichtvorhandenen Kommunikation ausgehen, behaupte, dass das autistische Kind durchaus die Beziehungssysteme der Liebe und des Hasses kennt?
Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass wir in jedem Fall, in dem wir tiefer gedrungen sind, auf äussersten und explosiven Hass gestossen sind. Hinter diesem Hass aber verbarg sich stets das ständig enttäuschte Verlangen, das freilich nicht aufgegeben wurde – ein Verlangen, das nun eingekapselt war in die Verdrängung, mit dem Ziel, seine Bewusstwerdung und den damit verbunden unerträglichen Schmerz zu verhindern.»
Bedeutungsvoll erscheint mir die Umkehrung der Gefühlslage im Verlauf einer erfolgreich durchgeführten Therapie: «Tatsächlich ist es so, dass das autistische Kind zunächst einmal blinden Hass und besinnungslose Wut freisetzt, wenn es zu der Überzeugung gelangt, dass Veränderung möglich ist und wenn seine Gefühle aufzutauen beginnen.
Man darf vermuten, dass es diese Gefühle gegen das einzige verfügbare Objekt richtet – gegen das Selbst, das zum Opfer seiner Selbstmordversuche wird. So ist also Autismus eine noch extremere Position als der Selbstmord, und die Selbstmordneigungen sind der erste Schritt zu einer neuen Aktivierung».
Die Verdrängung aller Gefühle
In diesem, in der Beschreibung von BRUNO BETTELHEIM gesetzmässigen Verlauf sehe ich eine Bestätigung für mein Modell der Entwicklung von Gefühlen: Der intensive Schmerz des absolut abhängigen Säuglings über frühen Liebesverlust führt letztlich zur Verdrängung aller Gefühle (Athymie). Dieses Gefühlsdefizit ist ein Merkmal von Frühstörungen. Der Prozess verläuft folgendermassen:
Am Anfang steht die tiefe Enttäuschung über den Verlust oder den völligen Mangel an liebevoller Bezugsmöglichkeit. Solange noch eine Hoffnung besteht, versucht sich das Kind über seine Wutausbrüche «sein Recht» zu holen.
In der sich ergebenden Resignation kommt es, unter dem Druck einer als existentiell bedrohend erlebten Situation zu extremer Angst und in der Folge zur Verdrängung aller Gefühle.
Tauen im Rahmen einer jahrelangen, geduldig durchgestandenen, das absolute Misstrauen überwindenden Therapie – nachdem die alles bestimmende Angst dem Vertrauen zur wesentlichen Bezugsperson, dem Therapeuten, weicht – die Gefühle allmählich auf, taucht zuerst wieder die besinnungslose Wut auf, die über all die Jahre nichts an explosiver Kraft eingebüsst hat.
Die psychischen Sekundärängste
Falls wir beim Auftreten einer uns beängstigenden Situation nicht reflexartig reagieren – falls wir «einen kühlen Kopf behalten» –, warten wir die Verarbeitung der Sinneseindrücke durch das Neuhirn ab und erkennen vielleicht im nachhinein, dass unsere erste, noch diffuse Einschätzung falsch war. Andererseits riskieren wir bei dieser Verzögerung den Verlust von wertvollen Sekunden.
Die Verhältnisse haben sich allerdings mit zunehmender kultureller Entwicklung immer mehr entschärft. Das Risiko, durch überlegendes Abwarten lebensrettende Zeit zu verlieren, wurde kleiner; der gezielte Einsatz des Verstandes entsprechend sinnvoller.
Dies hat allerdings auch eine Kehrseite. Je mehr wir in bedrohlichen Situationen alle Pro und Kontras in unserer Vorstellung gegeneinander abwägen, desto grösser ist das Risiko, dass sich Prozesse verselbständigen, die nicht mehr mit einer unmittelbar stattfindenden Situation zu tun haben.
Die befürchteten Situationen werden, im Sinne des Probehandelns, als reine Gedankenspiele durchexerziert. Solange sich dieses Phantasieren auf mögliche lebensbedrohliche Situationen bezieht, hat es sich im Sinne des Einübens von Notfallsituationen als hilfreich erwiesen. Bedenklich ist eine Verselbständigung dieses Prozesses, wenn sich die Phantasien nicht der Angst vor Körperbedrohung, sondern der Angst vor Gesichtsverlust widmen, der Angst davor, dass die Rolle, in der ich (mein Sekundärselbst) gesehen werden möchte, von meinem Gegenüber nicht akzeptiert wird.
Angst vor Verlassensein und Auslöschung
Da wir uns als sozialisierte Erwachsene meist mit unserem Sekundärselbst identifizieren, entspricht die Sekundärangst nicht nur der Angst vor dem Verlassensein, die bei der Primärangst existentiell ist, sondern noch viel konsequenter der Angst vor der Auslöschung des Sekundärselbst. Das entspricht einer existentiellen Bedrohung im psychischen Bereich, die als äusserst gefährlich erlebt wird.
Nicht mehr dazuzugehören, geächtet zu sein, entsprach in traditionellen Gesellschaften, nicht nur psychisch gesehen, häufig einem Todesurteil. Somit ist auch diese Form psychischer Sekundärangst letztlich die Angst vor existentiellem Liebesentzug und rückt damit in die Nähe des entsprechenden Primärgefühls des Säuglings.
Bei Menschen, die in der Frühkindheit keine so bedrohlichen Extremsituationen erlebt haben wie z. B. autistische Kinder oder die angepasster damit umgehen konnten, sind die elementaren Gefühlsreaktionen über viele Erziehungsschritte verfeinert, die Mechanismen der Angst verlaufen komplexer. Die Erinnerungsfähigkeit und das Bewusstsein erhalten im Rahmen von Entscheidungen einen enormen Stellenwert: Abwägen von Situationen innerhalb von Bruchteilen von Sekunden ist gekoppelt mit mehr oder weniger intensiv eingeprägten reflexartigen «Notfallprogrammen», die hilfreich, aber auch störend sein können, je nach Umfeld und momentaner Befindlichkeit.
Vier Grundformen der Angst
In seiner klassischen Darstellung «Grundformen der Angst» beschreibt FRITZ RIEMANN vier Grundängste. Diese setzt er in Beziehung zu vier menschlichen Grundtypen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie Angst davor haben, sich auf eine der vier von RIEMANN als grundlegend beschriebenen Entwicklungsrichtungen einzulassen:
- Die Angst vor Selbsthingabe
als Bedrohung durch Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt (schizoide Persönlichkeit). - Die Angst vor der Selbstwerdung
als Bedrohung durch Ungeborgenheit und Isolierung erlebt (depressive Persönlichkeit). - Die Angst vor der Wandlung
als Bedrohung durch Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt (zwanghafte Persönlichkeit). - Die Angst vor der Notwendigkeit der Hingabe
als Bedrohung durch Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt (hysterische Persönlichkeit).
Abhängig vom Intensitätsgrad ihrer Vermeidungsstrategien kommt es zu harmlosen Verschiebungen im seelischen Gleichgewicht, zu neurotischem Verhalten im Sinne von leichten Phobien, Zwängen oder Depressionen, oder gar zu schweren neurotischen respektive psychotischen Erkrankungen.
Je ausgeprägter sich die entstehende Angstpathologie dem Betrachter zeigt, desto weniger scheint die Angst selbst sichtbar zu sein, weder von aussen noch vor allem für den Betroffenen selber.
Die Symptome und die von aussen sichtbare Verhaltensweise zeichnen sich gerade dadurch aus, dass über sie die dahinterstehende Angst möglichst wirkungsvoll verschleiert, kompensiert oder verdrängt werden soll.
Angstformen nach Entwicklungsphasen
RIEMANN ordnet die Grundformen der Angst bestimmten Enwicklungsphasen zu. Alle vier der beschriebenen Angstformen stehen nach meinem Dafürhalten aus entwicklungspsychologischer Sicht eng mit einem Mangel an liebevoller Zuneigung in Zusammenhang:
Schizoide Verhaltensmuster und Angst
Den Schizoiden dient ihr Hang zu Selbständigkeit in erster Linie dazu, das Risiko von Nähe und damit die Möglichkeit, wieder alleingelassen zu werden, wieder eine verletzende Ablehnung zu erleben, zu vermeiden.
Depressive VERHALTENSMUSTER UND ANGST
Die Depressiven opfern sich in ihrem Bemühen, sich die als existentiell notwendig erachtete Liebe anderer zu erhalten, ganz für «die anderen» auf. So hoffen sie, einem drohenden Liebesverlust mit seinen äusserst schmerzhaften Folgen entgehen zu können.
Zwanghafte VERHALTENSMUSTER UND ANGST
Die Zwanghaften unternehmen alles in ihrer Möglichkeit Stehende, um Veränderungen, die ihre erstarrte Welt erschüttern oder vielleicht heilsam aufrütteln könnten, zu verhindern. Damit vermeiden sie Wechsel im Gefühlsleben, ganz besonders in ihren Beziehungen. Auch hier geht es letztlich um die Angst vor dem Liebesverlust.
Sie geht zurück auf die frühe Sozialisation, als Gebote und Verbote an das kleine Kind herangetragen wurden, bei deren Verweigerung Liebesentzug drohte. Rigides Einhalten von Geboten und Verboten schützt davor. Die Angst vor Veränderung wird zum alles bestimmenden Lebensthema.
Hysterische VERHALTENSMUSTER UND ANGST
Im Gegensatz dazu ist bei Hysterischen die Angst vor dem Verlust der Freiheit, respektive die Angst vor der Verbindlichkeit, vor dem «Zwang zur Liebe», das zentrale Thema.
Im Extrem wirkt sich diese Haltung in der Phobie lähmend, oder in einer überreaktiven Flucht nach vorn scheinbar belebend aus. Die mangelnde Verbindlichkeit ist entstanden durch Eltern, mit denen sich das Kind nicht identifizieren konnte, und deren Liebe es nur durch Manipulation zu erlangen vermochte.
Deutlich wird der Zusammenhang hysteriekonformen Verhaltens mit dem Streben nach Liebe im folgenden Tagebuchauszug einer Jugendlichen, die RIEMANN zitiert:
«Sei krank, und deine Mutter kümmert sich um dich, sei gesund und ‹normal› und man findet es selbstverständlich. Deswegen: sei raffiniert, spiele Theater, gib einerseits den Leuten, was sie haben wollen – ein Sunnygirl, ein Präsentierkind, das strahlend jedermann umarmt und als ‹süss› bezeichnet wird –, um andererseits dir auch das zu holen, was du brauchst. Und wenn sie dich nicht so lieben, dass du dein Ziel mit Zärtlichkeit erreichst, dann wird dich ihre Sorge um dich zum Ziel bringen.»
Weitere Bezüge zur Sekundärangst
Angst und Frustration
Der ichstarke Mensch ergreift in Konfliktsituationen die Flucht nach vorn: Er geht den Konflikt aktiv an; er handelt, weil er die Fähigkeit, sich durchzusetzen, erlernt hat. Menschen mit einer schlechten Frustrationstoleranz weichen in Vermeidungsverhalten aus. Die Ursache dieser Konfliktvermeidungsstrategien ist die Angst vor Liebesverlust, der bei der offenen Austragung eines Konflikts befürchtet wird.
Angst vor dem Leben
Angst vor dem Lieben
Aus der Summe vieler einzelner Frustrationserfahrungen ergibt sich die eigentliche Angst vor dem Leben und die Angst vor dem Lieben. Die sozialen Phobiker, d. h. Menschen mit Beziehungsängsten, machen in unseren Breiten bereits 15% der Bevölkerung aus.
Das soziale Vermeidungsverhalten geht in hohem Masse (70-80%) mit Folgeerkrankungen wie Depression, Agoraphobie, Suizid, Alkohol- und anderen Süchten sowie Kriminalität einher. Diese stehen in Zusammenhang mit unterdrückter Wut, zu der sich die Aggression gewandelt hat. In einer offenen Auseinandersetzung hätte sie ihr Ventil gefunden, was bei einer gut entwickelten «Streitkultur» auch zu einer konstruktiven Lösung geführt hätte.
Häufig bringt erst eine längere psychotherapeutische Behandlung, die den psychischen und physischen Sekundärsymptomen zu Grunde liegenden Ängste und schliesslich die verdrängte Wut zum Vorschein. In diesem Moment besteht eine erhöhte Gefahr autoaggressiver Handlungen wie Selbstmordimpulsen.
Angst vor Kontrollverlust
Unter Angstgefühlen ist häufig massive Wut verborgen, eine Wut, die, weil sie schon lange aufgestaut ist, ständig im Schach, unter Kontrolle gehalten werden muss. Ist der Aggressionsdruck so stark, dass das Risiko eines spontanen Wutausbruches wächst, erzeugt dies Angst vor dem Kontrollverlust.
Die möglichen Auswirkungen eines «Dammbruchs» werden als so bedrohlich empfunden, dass die Kontrolle immer mehr verstärkt werden muss, so dass sich die Angst parallel dazu verstärkt. Um so mehr als auch hier hinter der Wut der viel schwieriger zu ertragende Schmerz des frühen Liebesentzuges steht. Dass sich unter diesen Umständen chronische Ängste entwickeln können, ist nicht weiter erstaunlich.
Sekundärängste als Sozialisationsfolgen
Wir «Zivilisierten» leben im Banne von Sekundärängsten. Unmittelbar körperbedrohliche Situationen, die zu konkreter Furcht Anlass geben könnten, gibt es zwar viele. Sie sind aber in den meisten Fällen nur noch vage mit unseren Sinnen erfahrbar. Vage deshalb, weil Situationen, wie sie zum Beispiel die enormen Geschwindigkeiten im Alltagsverkehr mit sich bringen, die uns früher mit Sicherheit den Tod gebracht hätten, für unser stammesgeschichtlich geprägtes Erleben als äusserst bedrohlich eingestuft werden und deshalb aus «praktischen Erwägungen» heraus kontinuierlich verdrängt werden müssen.
Für viele wirklich lebensgefährliche Zustände wie die radioaktive Verstrahlung oder für das Ausmass der Toxizität von Chemikalien besitzen wir gar kein Sensorium, das uns auf eine entsprechende Gefahr aufmerksam machen würde.
Sekundärängste sind Erwartungsängste, die sich nur insofern auf eine aktuelle Situation beziehen, als diese Projektionsträger ist. Es handelt sich um bewusste oder noch häufiger unbewusste Erinnerungen an ähnliche Situationen, von denen wir befürchten, dass sie erneut, und dann in wenn möglich noch schrecklicherem Ausmass, auf uns zukommen könnten.
Das Erinnerungsmoment zeigt sich darin, dass diese Angst auch körperlich als unangenehm erlebt wird. Allerdings geben wir uns selten Rechenschaft über die Wurzeln dieser Empfindungen, die wir höchstens indirekt als Verspanntheit, Nervosität, gedrückte Stimmung oder unerklärliche Gereiztheit erleben. Dass diese Körpersymptome Ausdruck von Angst sein könnten, bleibt uns verborgen.
Angst als Motor des Fortschrittes
Ein Aspekt der Sekundärangst, auf den noch hingewiesen werden soll, ist ihre Funktion als Motor des Fortschritts. Je mehr wir zu verlieren haben, um so mehr Angst müssen wir in unserer durch die «Haben»-Philosophie geprägten westliche Welt um unseren Besitzstand haben. Mit grossem Einfallsreichtum fördern wir das wirtschaftliche Wachstum, das unabdingbar ist, wenn unser Lebensstandard erhalten bleiben soll.
Die Angst vor der Vergänglichkeit und dem Tod, die sich hinter dem Jugendlichkeitswahn versteckt, treibt auch die Erfolgreichen in eine immer härtere Gangart, während die «Versager» von der Angst eingeholt, überrollt und schliesslich in ihr ertränkt werden. Die pharmakologische Forschung sorgt dann für Abhilfe.
Die Angst als Auslöser von Panik und Depression
Die sekundäre psychische Verarbeitung von Angst ist ein entscheidender Faktor in der Entstehung der Panik. Bei phantasiebegabten und sensiblen Individuen kann sich in Stresssituationen – infolge eines fehlenden Körperbezuges – die Vorstellung einer erlittenen oder vielleicht noch bevorstehenden Angstsituation verselbständigen.
Die Reaktionsschlaufe führt in der Folge zum völligen Zusammenbruch des Nervensystems: Der Kontakt zur Wirklichkeit geht verloren. Wir nehmen unseren Körper nicht mehr wahr, während das Gehirn von Vorstellungen überflutet wird. Fatal daran ist, dass wir nicht mehr zu unseren körperbezogenen Abwehr- und Verteidigungsmöglichkeiten in Bezug stehen. Im Extremfall resultiert Panik.
Dauert dieser Zustand auf einer weniger intensiven Ebene an, so versinken wir in lähmende Passivität: Wir werden depressiv. Diese Herleitung panischer und depressiver Zustände aus lebensgeschichtlichen Ursachen wird durch die moderne bio-psychologische Forschung zwar relativiert, aber keineswegs ausser Kraft gesetzt.
Auch wenn Zusammenhänge zwischen dem Defizit von Neurotransmittersubstanzen (insbesondere Noradrenalin und Serotonin) sowie der übermässigen Produktion von Neuropeptiden (vor allem des Corticotropin Releasing Hormons CRH) bis in molekulare Details aufgeklärt sind, ist der Einfluss von frühen traumatisierenden Lebenserfahrungen unbestritten. Die Tatsache, dass Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sowohl bei Depression als auch bei Panik wirksam sind, weist auf die enge Beziehung der beiden Phänomene hin.
Es findet sich auch ein Bezugspunkt zwischen der Reaktionsweise autistischer Kinder und den Verhaltensweisen von Depressiven in therapeutischen Situationen: Sowohl autistische Kinder, die stärkste Wutgefühle verdrängt haben, als auch schwer depressive Menschen durchlaufen eine gefährliche Phase der suizidalen Bedrohung, wenn sich Besserung einzustellen beginnt. Wenn sie, von aussen gesehen, das Schlimmste bereits überstanden haben, sind sie erhöht für eine Selbstmordhandlung anfällig, dann, wenn sie aus der resignativen Schwermütigkeit zum Leben und damit unvermeidbar auch zur Heftigkeit ihrer verdrängten Wut zurückfinden.