Über die psychischen Schmerzen von Liebesentzug
Der Missachtung und Verdrängung der Liebe (der Seinsliebe wie auch der primären Erregungsliebe) – dieses elementaren Lebensbedürfnisses – entspringen Akte brutalster Gewalt, insbesondere, wenn Menschen diese Erfahrung immer wieder versagt wird und vor allem, wenn sie ihnen schon sehr früh versagt worden ist.
Die Folgen eines gravierenden Defizites an vorbehaltloser Liebe oder gar des (sexuellen) Missbrauchs im Säuglingsalter äussern sich in besonderem Masse in der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sowie – wohl am ausgeprägtesten – bei Borderline-Persönlichkeiten.
Die Folgen von Liebesentzug am Beispiel von Saddam Hussein
ALICE MILLER hat auf entsprechende Zusammenhänge im Leben von Adolf Hitler hingewiesen. Ein weiteres Beispiel aus der Reihe der grossen Diktatoren liefert die Biographie von Saddam Hussein. Es handelt sich um Aussagen, die Hassan Al-Alawi, von l974-80 Saddams intimster Berater, gemacht hat:
«Der Vater früh verstorben (wahrscheinlich war dieser gar nicht bekannt, das Kind also von der Umgebung geächtetes Freiwild), von seinem Stiefvater immer wieder geschlagen. Schon als Zehnjähriger trennte er sich nie von einem Eisenknüppel mit dem er um sich schlug und mit dem er sich über Land gegen die Hunde wehrte. In der Schule versteckte er ihn unter seiner Dschellaba. Mitunter brachte er ihn im Feuer zur Rotglut, von seinen Kameraden umringt, und drückte ihn in die Augen und in den After von eingefangenen Tieren.
Dieser Eisenknüppel war sein einziger Gefährte und sein einziger Schutz gegenüber einer harten Gesellschaft, die ihn von sich stiess. Er ist aufgewachsen mit dem Hass auf die Gesellschaft und mit diesem Knüppel in der Hand. Noch heute ist sein Vertrauen in diesen Knüppel stärker als alles andere. Aus ihm bezieht er den Kern seiner Macht.
Nichts anderes kann ihn beschützen: weder die Polizei noch der Staat. Kein Bildnis von ihm, kein Lied zu seinem Ruhm vermag ihn zu überzeugen, dass die Gesellschaft ihn endlich liebte. Und wie er die Hunde getötet hat, tötete er alle seine Freunde in der Partei und einige seiner Verwandten. Ohne jede Reue. Und noch immer ebenso einsam.
Mit 14 Jahren beging er seinen ersten Mord, auf Anstiftung seines Onkels, der sich an jemandem rächen wollte. Der Eisenknüppel hat sich später in eine Pistole verwandelt …»
These:
Physische und psychische Gewalt sind mögliche Reaktionen auf den sich aus dem Liebesentzug ergebenden Trennungsschmerz. Wenn die Verletzung immer wieder psychisch erfahren wurde, entlädt sich dieses aggressive Potential später antizipativ im Sinne einer vorbeugenden Massnahme gegenüber der Angst vor Liebesverlust.
Wie sich Kinder mit Liebesentzug entwickeln
Umgekehrt kann es, wie BETTELHEIM im Fall von schwer autistischen Kindern und bei Insassen von Konzentrationslagern gezeigt hat, sowohl bei Kindern als auch bei erwachsenen Personen in Extremsituationen zum Zustand der totalen Resignation kommen.
Bei den Kindern stellte er allerdings, wie bereits erwähnt, fest, dass unter der scheinbaren Erschöpfung immer ein ungeheures Energiepotential verborgen ist, das sich in massloser Wut entlädt, sobald eine entsprechend vertrauens- und hoffnungsvolle Atmosphäre im Rahmen der Therapiebemühungen geschaffen ist.
Wenn Drogenabhängige den psychischen Schmerz des Liebesentzugs als Grund für ihre Sucht anführen, so entspricht das meiner Erfahrung in eigenen Therapien und als Begleiter von Klienten. Der psychische Schmerz über den Liebesentzug führt zu einer unbewussten Sehnsucht nach der verlorenen Liebeserfahrung im Zustand der Seinsliebe.
Eine Erklärung des «Substanzmissbrauchs» ist, dass Konsumenten über das Suchtmittel versuchen, sich wieder in der intrauterinen Situation mit der Mutter zu vereinen. Dass die Ursache des «Urschmerzes» im Verlust der intrauterinen symbiotischen Verbindung mit der Mutter durch die Geburt liegen soll, halte ich für möglich.
Tiefe psychische Wunden schon im Fötus
Damit die Suche nach einer Stillung dieser Sehnsucht für einen Menschen zum alles bestimmenden, imperativen Faktor wird, mussten aber psychische Wunden gesetzt werden, die den Organismus stärker beeindruckten, als es die biologische Ablösung/Trennung im Zusammenhang mit dem Geburtsvorgang zu tun vermag. Mit grosser Wahrscheinlichkeit entstammen die tiefsten Wunden Erfahrungen, die bereits der Fötus durchgemacht hat.
SIGMUND FREUD, der als Verfechter des Realitätsprinzips zum Schluss gekommen ist, dass der Mensch «auf Lust zu verzichten hat», ergänzte folgerichtig und pessimistisch:
«Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel psychische Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen können wir Linderungsmittel nicht entbehren … Ablenkung,… Ersatzbefriedigung…, Rauschstoffe.»
Anders formuliert:
Psychischer Schmerz ist nach FREUD der Grundzustand der menschlichen Existenz, Ersatzbefriedigung das natürliche Antidot gegen dieses existentielle Übel. Er erkannte, dass «der Kranke aus seiner Erinnerung verdrängt, was ihn verletzt; deshalb wurde er krank».
NITZSCHKE folgert: «Verdrängung anstelle notwendiger Trauerarbeit als schädigende Form des menschlich notwendigen Vergessens…. Anstatt der Einsicht durch das Erinnern der Verletzung kann es zum unbewussten wiederholenden Ausagieren in der Neurose kommen.»
Verdrängen, ungeschehen machen in der Neurose, all dies dient also als Versuch, den psychischen Schmerz unter Kontrolle zu halten. In Verbindung mit den FREUDSCHEN Begriffen Realitätsprinzip und Ersatzbefriedigung befinden wir uns unmissverständlich in dem Bereich, den ich als Sekundärselbst bezeichne.