Säuglinge im Zustand der Seinsliebe
Die Phase des Primärselbst ist in doppeltem Sinne von zentraler Bedeutung für die weitere psychische Entwicklung des Menschen. Einerseits öffnet die ungeschützte Hilflosigkeit des kleinen Wesens, das keine Möglichkeit hat, psychisch schmerzvollen Erfahrungen auszuweichen, Verletzungen Tür und Tor. Der schreiende Protest ist das Maximum dessen, was möglich ist.
Früher oder später wird diese aktive kämpferische Strategie aber der Macht des Stärkeren weichen und der Säugling wird, wenn seine Bedürfnisse übergangen werden, verzweifelt resignieren oder bestenfalls in der Verleugnung die Übermacht ignorieren.
Prägende Einflüsse auf die frühkindliche Psyche
Auf der anderen Seite ermöglicht die vertrauensvolle Offenheit im Zustand der Seinsliebe eine ausserordentlich grosse Beeinflussung der frühkindlichen Seele – eine Voraussetzung für gute und schlechte prägende Einflüsse.
In die frühkindliche Psyche, die jeden Eindruck kritiklos aufzunehmen gezwungen ist, wird ein Verhaltensprogramm eingraviert, das nur noch mit grossem Einsatz – falls der/die Betreffende willens ist, mitzumachen – umgeschrieben oder ausgelöscht werden kann. Insbesondere der Versuch, allein über Veränderungen des Sekundärselbst diese in der Primärselbstphase erfolgten Prägungen dauerhaft zu modifizieren, dürfte schwierig sein. Auf die zentrale Bedeutung, die dem Körperbezug in diesem Zusammenhang zukommt, habe ich bereits hingewiesen.
Auswege aus frühkindlicher, schmerzhafter Erfahrung
Der echte Ausweg aus den Folgen der schmerzhaften Erfahrung besteht für den erwachsenen Menschen darin, diesen psychischen Schmerz nicht nur zuzulassen, sondern auch auszudrücken und damit wieder für andere Erfahrungen frei zu werden. In und durch den psychischen Schmerz hindurch bin ich zudem wieder offen für die Primärfreude. Bei tiefergehenden Verletzungen ist dabei meist eine professionelle Begleitung erforderlich.
BERT HELLINGER, der in der Primärtherapie seine Wurzeln hat, beschreibt als Ursache des kindlichen Gefühls, «nicht angenommen zu werden», das Prinzip der unterbrochenen Hinbewegung. Diese kommt nicht nur über eine ablehnende Haltung gegenüber dem nicht in seinen Bedürfnissen erkannten Säuglings zustande. Auch frühe Trennung infolge Spital- und Heimaufenthalt oder durch den Tod der pflegenden Bezugsperson kann zu einer schmerzhaft empfundenen Unterbrechung führen.
Der psychische Schmerz einer frühen Trennung von den Eltern
Es handelt sich dabei für HELLINGER um den, neben den Verstrickungen im System, zweithäufigsten Grund für psychisches Leiden. Ziel seiner Intervention ist es, diese unterbrochene Hinbewegung (meist hin zu Mutter oder Vater) während der Gruppensitzung zu vervollständigen, indem er den oder die Betroffene das tief empfundene, ungestillte Bedürfnis nach körperlicher Nähe empfinden lässt und ihm/ihr im Rahmen der Gruppensituation die Möglichkeit gibt, ihre Sehnsucht stellvertretend zu befriedigen.
DAN CASRIEL hat im Bonding, ähnlich wie später JIRINA PREKOP in der Festhaltetherapie, bereits in den 60er Jahren ähnliche Lösungsschritte an seinem New Yorker Institut erprobt.
Gleichsam eine unterbrochene Hinbewegung zu sich selbst findet statt, wenn der Säugling schon sehr früh «den Entschluss fasst», die Berührung des eigenen Körpers zu unterlassen. Selbstberührung ermöglicht vielfach die erlösende Entwicklung eines Energiesignals in der psychoenergetischen Therapie nach SCHELLENBAUM, gleichsam als liebevoller Vollzug der unterbrochenen Hinbewegung zum Selbst. In ähnlichem Sinne wirkt auch der Kontakt mit einem Übergangsobjekt.
Beobachtungen an autistischen Kindern
Bis zu den Untersuchungen von SPITZ an Säuglingen, die unter erschwerten Bedingungen in Heimen aufwuchsen, war auch unter Ärzten die vorherrschende Meinung, dass vor der Gehirnreife, das heisst bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr, Kinder nicht die Fähigkeiten haben, sich an irgend etwas zu erinnern, und dass demzufolge auch irgendwelche schädigenden Einflüsse keine dauerhaften Folgen haben können.
Persönliche Erinnerungen von Patienten die – seit der Freudschen Psychoanalyse und deren Weiterentwicklung, insbesondere auch im Rahmen der Primärtherapie – dieser Vorstellung widersprachen, galten lange als Phantasieprodukte.
Traumata, die ungewöhnliches, kindliches Verhalten erschaffen
Auch heute noch, da eine erdrückende Beweislast für die Möglichkeit von frühkindlichen Schädigungen durch die Erziehung vorliegt, wird immer wieder versucht, sogenannte «bösartige» Entwicklungen einzelner Menschen – bis hin zu selbstschädigendem und kriminellem Verhalten – als genetisch bedingt oder unerklärbar zu betrachten. Die Gesellschaft versucht sich damit offensichtlich der Verantwortung zu entziehen.
Es erstaunt nicht, dass die Erkenntnisse BRUNO BETTELHEIMS, der sich – wohl nicht zuletzt auf Grund seiner Erfahrungen in Konzentrationslagern kurz vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges – eingehend mit möglichen Auswirkungen von frühkindlichen Schädigungen im Rahmen seiner Autismustherapien auseinandergesetzt hat, von der Mehrheit der Fachwissenschafter angezweifelt, wenn nicht sogar totgeschwiegen worden ist. Allzu deutlich hat er aufgezeigt, dass «abartiges» kindliches Verhalten nicht einfach angeboren ist, sondern durch Traumata erzeugt wird und fördernd oder hemmend beeinflusst werden kann.
Psychotische Kinder leiden an frühkindlichen Erfahrungen
BETTELHEIM war bereits 1956 überzeugt, «dass alle psychotischen Kinder an der Erfahrung leiden, dass sie extremen Lebensbedingungen ausgesetzt gewesen sind, und dass die Schwere ihrer Störungen direkt damit zusammenhängt, wie früh diese Bedingungen aufgetreten sind, wie lange sie gedauert und wie stark sie sich auf das Kind ausgewirkt haben».
Insbesondere autistische Kinder verkörpern seiner Ansicht nach das Paradox, dass sie einerseits völlig passiv und reaktionsträge erscheinen, während sie gleichzeitig der gesamten Umwelt einen extremen Widerstand entgegensetzen.
«Ich glaube, dass sich bei diesen Kindern alles auf das Abwehrsystem konzentriert, so dass alle anderen Reize, ganz gleich, ob sie von innen oder aussen kommen, ausgeschaltet werden…. weshalb diese Kinder nicht wahrnehmen, dass diese Empfindungen sagen wir von einem gebrochenen Zehen oder einer Blinddarmentzündung herrühren.»
Dies entspricht dem emotionalen Prozess, dem wir unter dem Stichwort Athymie begegnet sind. BRUNO BETTELHEIM vermutet, dass autistische Kinder «abwehrend versuchen, das, was für sie an dieser Erfahrung zu zerstörerisch ist, auszuschalten». Er postuliert, dass infolge dieses aktiven Rückzugsverhaltens nicht nur die Entwicklung des kognitiven Bereiches – mit der Auswirkung von intellektuellen Unzulänglichkeiten – beeinträchtigt wird, sondern dass daraus auch eine affektive Unzulänglichkeit resultieren könnte, indem «das Kind der Welt den Rücken zukehrt» weil «lebenswichtige Erfahrungen fehlen».
Die heilenden Auswirkungen einer liebevollen Umgebung
Doch nicht immer muss der Schaden unwiderrufbar sein. In einer liebevollen Umgebung können auch schwerst beeinträchtigte Kinder wieder aufblühen. Nur eine Voraussetzung scheint dabei wesentlich zu sein: dass das Milieu grundlegend geändert wird.
Die vorerst paradox erscheinende Beobachtung, dass beim «Wiederauftauen» der kindlichen Psyche weniger positive Emotionen als vielmehr offene Wut und Feindseligkeit sichtbar werden, leuchtet sogleich ein, wenn wir das Schema der Entstehung negativer Gefühle und die Verdrängungskaskade betrachten:
Nachdem sich der Totstellreflex der totalen Angst löst, wird, gleichzeitig mit dem Wiedererleben des verdrängten psychischen Schmerzes, die Wut manifest. Der Heilungsprozess ist aber erst durch die korrigierende Liebeserfahrung und das damit in Zusammenhang stehende neue Vertrauen möglich. In sorgfältigen Schritten müssen die Ersatzeltern immer wieder diesen teilweise äusserst unangenehmen Zyklus von Rückzug und einschiessender Wut mit dem Kind durchmachen, bis das Vertrauen genügend gefestigt ist.
Und selbst dann kann es, in unerwartet bedrohlichen Situationen, plötzlich zu einem Rückfall kommen. Ein Beispiel:
Marcel, 8jährig, beide Eltern sind drogenabhängig, die Mutter lebt in einer Klinik. Seit der Geburt verbringt Marcel sein Leben in Heimen. Er ist intelligent, äusserst aggressiv, beisst im Anfall auf alles (Gummi, Stuhllehne). Lässt man ihn aus einer Babyflasche Tee trinken, so beruhigt er sich. Sogar die Kameraden haben es gelernt, ihn so zu «bändigen». Bei bevorstehenden Trennungssituationen kommt es aber immer wieder zu Affektausbrüchen.
Die große Angst vor psychischen Schmerzen bei Kindern
BETTELHEIM hat beobachtet, dass diese Kinder «zwar keinen Schmerz zu fühlen scheinen, dass jedoch ihre Angst vor dem Schmerz fast übermenschliche Energien in ihnen freisetzt:
«Ich komme hier noch einmal auf jenes kränkliche Mädchen zu sprechen, das auf den normalerweise unerträglichen Schmerz, den ein Blinddarmbruch mit sich bringt, nicht reagierte. Doch als es ihm später körperlich gut ging, musste sie jedesmal, wenn sie eine Spritze bekam, von zwei Erwachsenen festgehalten werden.
Ein Eindringen von aussen muss diesen Kindern also wesentlich gefährlicher erscheinen als Dinge, die von innen kommen…. So haben die meisten unserer autistischen Kinder mit gewaltigen Energien und mit der Heftigkeit einer totalen Verzweiflung sogar die geduldigsten Bemühungen, ihre Zähne zu richten, bekämpft…. Ihre Hauptangst besteht wahrscheinlich darin, dass der Zahnarzt ihre Zähne als Vergeltung für ihren Wunsch zu beissen und zu verschlingen, zerstören könnte.»
Ein Rückfall in Phasen des totalen Rückzugs auch bei Erwachsenen – entsprechend einem Resignieren im Zustand des Primärselbst – hat Bettelheim bei Insassen von Konzentrationslagern beobachtet:
Diese von den tatkräftigeren Mitgefangenen als Versager eingestuften Menschen gaben, im Gegensatz zu ihren willensstärkeren Kameraden, jede Hoffnung auf und akzeptierten widerstandlos ihre Opferrolle.
Strategien von Säuglingen bei psychischem Primärschmerz
Nicht pathologisch übersteigert, doch mit ähnlichen Reaktionsformen verhalten sich auch Säuglinge, wenn sie auf der Ebene des Primärselbst verletzt werden.
Die Beobachtungen von BRAZELTON bestätigen weitgehend die von BETTELHEIM bereits fünfundzwanzig Jahre zuvor postulierten Reaktionsweisen. BRAZELTON beobachtete vier Wochen alte Babys, deren Bedürfnis nach Blickkontakt absichtlich vernachlässigt wurde. Die getesteten Säuglinge «benutzen» Strategien, die in auffallender Weise den eben geschilderten Verhaltensweisen autistischer Kinder entsprechen:
- Das Kind macht sich klein und wendet sich ab (Flucht).
- Es versucht mit Händen und Füssen, das Unangenehme wegzutreten (Kampf).
- Es schaut ins Leere oder schläft ein (Verleugnung).
- Es fängt an zu wimmern oder zu schreien (Protest; Verzweiflung).
Wie sich Liebesverlust bei Säuglingen auswirkt
PAPOUSEK beobachtete diese Verhaltensweisen vor allem bei den häufig überstimulierten «Schreibabys». Die Situationen eins und zwei entsprechen klassischen Reaktionen auf die Erfahrung von psychischem Primärschmerz, dem Fight-or-Flight-Verhalten. Gleichzeitig entspricht diese Verhaltensweise aktivem Handeln. Damit ist sie noch nicht, wie wir es bei den Strategien des Sekundärselbst sehen werden, auf die psychische Ebene verlagert. Erst die dritte Verhaltensweise der Verleugnung, dürfte dieser rein psychischen Ebene entsprechen.
Es leuchtet ein, dass diese vier Verhaltensmuster nur einer Momentaufnahme entsprechen und dass beim einzelnen Kind alle Möglichkeiten in wechselnder Zusammensetzung und Abfolge auftreten können. Das Ausmass der Spätfolgen früher Erfahrungen von Liebesverlust dürfte von vielen Faktoren abhängen; neben der Dauer und Intensität der traumatisierenden Exposition werden auch das Vorhandensein respektive das Fehlen des Urvertrauens sowie körperliche Gegebenheiten eine wesentliche Rolle spielen.
Genetische und entwicklungsgeschichtliche Einflüsse (frühe physische Traumata oder Gehirnerkrankungen) sind ebenfalls von grosser Bedeutung. Dass neben der angeführten Extremform des Autismus insbesondere auch Borderline-Patienten von frühen psychisch traumatisierenden Schädigungen beeinflusst worden sind, bezweifeln nur noch extreme «Biologisten».
Früher Körperwiderstand
(Primärer Widerstand)
Der Körperwiderstand ist ein Verhaltensmuster, das bereits früh eingesetzt wird; ohne dessen Wirksamkeit ist die menschliche Sozialisation kaum vorstellbar. Allerdings spielen sich diese Vorgänge weitgehend im Verborgenen ab, so dass es nicht erstaunt, dass sie von BRAZELTON übersehen wurden.
Schon im Fötus beginnt die Körperabwehr
Möglicherweise handelt es sich um körperliche Reaktionen, die bereits intrauterin angebahnt werden. So ist es vorstellbar, dass als pathologisch beschriebene und von Patienten erst im Verlauf von Körpertherapien erinnerte und als bedrohlich erlebte Zustände der Leere mit den von der italienischen Psychoanalytikerin ALESSANDRA PIONTELLI beschriebenen fötalen Reaktionen zusammenhängen.
Sie konnte während Ultraschalluntersuchungen Mütter und ihre noch Ungeborenen beobachten. Nach der Geburt stellte sich heraus, dass das Verhalten dieser Kinder sich über mehrere Jahre hinweg kaum vom vorgeburtlichen Verhalten im Uterus unterschied. Der Säugling «versteht» offenbar noch vor der Geburt alles, kann aber nicht sprechen und sich deshalb – vor allem wenn die Mutter über wenig Einfühlungsvermögen verfügt – nur schwer bemerkbar machen.
Kinästhetisches Vermeidungsverhalten
GEORGE DOWNING widmet in seinem Buch «Körper und Wort in der Psychotherapie» der Körperabwehr ein separates Kapitel. Darin listet er zehn verschiedene Formen auf, von denen die ersten acht nach meinem Dafürhalten zu Verhaltensweisen des Primärselbst gerechnet werden müssen. Die vielleicht früheste körperliche Abwehrform ist die kinästhetische Vermeidung.
«Sie ist eine generelle Flucht aus dem kinästhetischen Bereich. Diese Abwehr betrifft die bewusste Verteilung unserer Aufmerksamkeit; das heisst, sie beeinflusst, wie und wann wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten. Man gewöhnt sich an, das Kinästhetische «auszublenden», es zu ignorieren. … bei kinästhetischer Vermeidung wird über das (absolut lebensnotwendige) Minimum hinaus wahrscheinlich wenig registriert.»
Ob dieses Vermeidungsverhalten bewusst ist, bezweifle ich allerdings. Gerade im therapeutischen Alltag entspricht es einer eindrücklichen Erfahrung, dass das kinästhetische Vermeidungsverhalten nicht nur weit verbreitet ist, sondern auch, dass sich die wenigsten über ihr diesbezügliches Defizit im klaren sind.
Gefühllosigkeit – Unempfindlichkeit gegenüber psychischen Schmerzen
Eine zentrale Konsequenz der sich daraus ergebenden generellen Gefühllosigkeit (Athymie) und wahrscheinlich die eigentliche Ursache des ganzen Prozesses ist eine ausgeprägte Unempfindlichkeit gegenüber psychischen Schmerzen, wie sie BETTELHEIM bei autistischen Kindern beschrieben hat und wie sie neuerdings auch bei Borderline-Patienten beschrieben wird (BOHUS). Diese Vermeidungsform wird später durch visuelle Körperbildkonstruktionen intensiviert, die einen unmittelbaren Bezug zum Sekundärselbst aufweisen. Es handelt sich dabei um einen zentralen Abwehrmechanismus im Rahmen der Sozialisation.
«Wir benützen sie (visuelle Körperbildkonstruktionen), um die Flucht aus dem kinästhetischen Reich zu unterstützen. Es handelt sich um eine wichtige Ergänzung der kinästhetischen Vermeidung. Diese Konstruktionen repräsentieren den Körper als etwas, was gesehen wird, das heisst, von aussen gesehen … Bei der Vorstellung von ‹meinem Körper› – oder ‹meinem Selbst› in seiner körperlichen Dimension – wird diese Konstruktion als Hauptbezug ausgelöst.
Das Problem jedoch ist, dass ‹mein Körper› – und in seiner körperlichen Dimension ‹mein Selbst› – tatsächlich einen zweiten, zusätzlichen Bezug haben könnten: nämlich den ‹gelebten Körper›, wie ich ihn phänomenologisch erlebe, eine überwiegend höchst kinästhetische Angelegenheit. Mit anderen Worten, durch einen zu glatten Sprung zum visuellen Bezug gleite ich über den kinästhetischen Bezug hinweg.
Das Bild von einer äusseren körperlichen Hülle wird zum bequemen Haken, an dem ich die Vorstellung meiner selbst festmachen kann. Durch diese Vorherrschaft des Visuellen wird die kinästhetische Vermeidung nicht nur direkt verstärkt, sondern sie hilft uns auch zu verleugnen, wie gründlich wir den Kontakt zu uns selbst verloren haben. Sie maskiert das Problem. Sie führt dazu, dass wir über unser körperliches Wesen in einer Form nachdenken, die verbirgt, wie sehr wir davon abgeschnitten sind und wie wenig wir in Wirklichkeit damit in Berührung sind.»
Voraussetzung dafür, dass es zu diesen visuellen Körperbildkonstruktionen kommt, die die kinästhetische Wahrnehmung weitgehend verdrängen, ist, dass ich eine Vorstellung konstruieren kann. Das Wiedereintauchen in die körperliche Wahrnehmung ermöglicht es in der Therapie, scheinbar ausweglose Situationen zu klären und den unterdrückten Lebensprozess wieder in Gang zu bringen.
Ein Beispiel aus der Praxis
Der 50jährige Max, bereits erfahren in der psychonergetischen Körperarbeit, ersucht mich telephonisch um eine Krisensitzung. Er habe grosse Angst vor einer bevorstehenden Supervisionssitzung mit seinem Team, fühle sich depressiv gestimmt und wisse nicht mehr ein und aus.
In der Therapiesitzung erwähnt er, dass «alle auf ihn schauen, obwohl er doch überhaupt keine Aufmerksamkeit wünsche». Während er spricht, macht die linke Hand, die zur Faust geballt ist, unbewusst ausschlagende Bewegungen. Ich frage gegen wen sich diese Ausschläge richten. «Gegen den bösen Max!» – d. h. also gegen ihn selbst. Kurze Zeit vorher hatte er allerdings sehr aggressiv von «den anderen, diesen Arschlöchern» gesprochen.
Wie ich diese Diskrepanz andeute, kommt seine masslose Wut auf seinen unmittelbaren Vorgesetzten zum Vorschein. Beim Nachspüren fühlt er «tief im Bauch einen grossen Klumpen aus Angst und psychischem Schmerz».
Immer noch spürbewusst, berührt wie zufällig seine linke Hand den rechten Arm. Da vertieft sich die Atmung, das Gesicht entspannt sich zunehmend. Das Gespaltensein (sowohl innerhalb seines Körperselbst als auch gegenüber «den anderen») löst sich, die Angst und der Druck verschwinden und machen einem tiefen, körperlich empfundenen Frieden Platz.
«Ich mache meine Arbeit gut; ich liebe meine Arbeit».
Getrost, als «ganzer Mensch» sieht er der kommenden Supervisionssitzung entgegen. (Selbstverständlich setzt ein so rasches Verarbeiten einer Krisensituation therapeutische Vorerfahrungen voraus in bezug auf die zu Grunde liegenden psychischen Konflikte wie auch viele Stunden eingehender Körpergefühlwahrnehmung).
Dieses Beispiel veranschaulicht, wie sehr geistige Vorstellungen und körperliche Haltungen miteinander in Bezug stehen und wie hilfreich das spürbewusste Arbeiten an diesen Verknüpfungen sein kann.
Atemreduktion – die folgenschwerste Körperabwehr
Den nach meinem Dafürhalten folgenschwersten Körperabwehrmechanismus bildet die Atemreduktion. «Sie ist vielleicht die wirkungsvollste Form der Körperabwehr. Ihre destruktiven Auswirkungen zeigen sich in der psychischen Ökonomie von uns allen.
Diese Abwehr borgt sich Elemente von sämtlichen anderen Körperabwehrmechanismen und setzt sie für einen speziellen Zweck ein … Rufen Sie sich auch ins Gedächtnis zurück, dass das Wichtigste nicht das Atemvolumen sondern die Reaktionsfähigkeit des Atmens ist … Deshalb ist jede defensive Verringerung der Atmung so machtvoll. Sie zieht sowohl unseren Kontakt zu uns selbst als auch den zu anderen Menschen in Mitleidenschaft.»
Insbesondere die Atemblockaden im Hals- und im Zwerchfellbereich erlauben bereits dem Säugling eine äusserst wirkungsvolle Beeinflussung seiner Gefühlsaktivität.
Ähnlich grundlegend und gleichzeitig äusserst effektvoll ist die schon erwähnte Gegenpulsation, die CHARLES KELLEY hat. Dabei handelt es sich wohl um eine Sonderform der von DOWNING erwähnten Gegenmobilisierung.
«Die Gegenmobilisierung stellt eine Bewegung dar, die gegen eine andere, ihr vorausgegangene Bewegung gerichtet ist … Ein Kind wird zum Beispiel traurig. Eines der dadurch mobilisierten Subschemata stimuliert eine Öffnung der Kehle als Vorbereitung zum Schluchzen. Ein Zusammenziehen der Kehle wirkt dann dem entgegen und reduziert oder verhindert, dass das Schluchzen anwächst.»
Entstehung eines Charakterpanzers
Ähnlich wie bei der Gegenpulsation könnte man auch von Selbstverhinderung oder dynamischer Selbstblockade sprechen, einer noch nicht total erstarrten Form des chronischen Festhaltens, wie sie WILHELM REICH als Charakterpanzer beschrieben hat.
Für GEORGE DOWNING sind unterentwickelte motorische Schemata die erste Form körperlichen Widerstandes im Sinne einer Entwicklungshemmung, die auftritt, wenn durch die Mutter resp. eine andere Betreuungsperson nur eine selektive Abstimmung (attunement) auf die Signale des Säuglings erfolgt. In seiner «abortiven» Form, d. h. wenn nicht voll wirksam, weil die Rebellion zu intensiv ist, kommt es zu verzerrten affektmotorischen Schemata.
Ist dagegen das Missverhältnis zwischen der «Macht» des Säuglings und derjenigen der Betreuenden zu gross, so kommt es zur Deaktivierung und schliesslich zur chronischen Hypotonie. Bei BRAZELTON würde dies der dritten Verhaltensweise, der resignativen Verleugnung (der Säugling schaut ins Leere oder schläft ein), entsprechen.