Wut, Gewalt und Hass als Reaktion auf psychischen Schmerz

W

Die Primärwut 

Die ursprüngliche Aggressivität dient der Abgrenzung gegenüber einer lebensbedrohenden Gefahr; wir kennen sie aus dem Tierreich. Beim Menschen ist sie – als Verhaltensweise – der körperliche Ausdruck des Zustandes der psychischen Primärwut. Aggressivität, um sich gegenüber anderen abzugrenzen und sich für sein Leben einzusetzen, war seit Jahrmillionen auch beim Menschen eine Voraussetzung, um überleben zu können.

Wir kommen mit entsprechenden Reaktionsweisen ausgerüstet zur Welt, das Fight-or-Flight-Verhalten ist in unseren Instinkten verankert. Diese ursprüngliche Aggressivität steht in Zusammenhang mit dem Primärselbst. Sie wird, psychologisch gesehen, vor allem eingesetzt zur Bewahrung der eigenen Persönlichkeit. 

Wie sich im Tiermodell zeigen lässt, kann Aggression auch als Motor einer sinnvollen Veränderung, als energiereiche, neugierige Kontaktnahme (lat. aggredere – auf jemanden oder etwas zugehen) gelebt und erlebt werden. Auf jemanden zugehen, ihn zu berühren, schliesst auch das Bedürfnis mit ein, jemanden auf sich zukommen zu lassen, berührt zu werden.

Ob eine solche aktive, «aggressive» Annäherung als lustvoll oder als schmerzhaft empfunden wird, hängt damit zusammen, ob die Kontaktnahme beidseitig erwünscht oder einseitig erzwungen ist.

Wut zur Sicherung des Überlebens

Wut als verzweifelte, von uraltem Instinktverhalten geprägte Aggressivität (zum Selbstschutz) entsteht auch, wenn der Lebensraum unter ein genetisch festgelegtes Mass eingeschränkt wird. So wie es sich in den übervölkerten Millionenstädte tagtäglich abspielt und wie es CALDOUN bereits 1950 in seinem Rattenversuch aufgezeigt hat:
Eine Rattensippe wird in einem begrenzten Territorium gehalten, das sukzessive verkleinert wird. Bald werden die Tiere unruhig und aggressiv, Terror greift um sich, die Sexualität wird chaotisch, die Fruchtbarkeit sinkt und gleichzeitig werden Schwächere und Neugeborene getötet und aufgefressen, und dies so lange, bis das Zahlenverhältnis der Ratten pro Flächeneinheit sich wieder auf einen «lebbaren» Stand eingespielt hat.

Wir Menschen haben in den letzten Jahrtausenden, das heisst, seit die zunehmende Sozialisierung das Zusammenleben immer grösserer Menschenansammlungen ermöglicht hat, erstaunlich gut mit der Reduktion unseres Lebensraums leben können. Der exponentielle Wachstumsschub des letzten Jahrhunderts scheint nun aber doch die Anpassungsmechanismen unseres Biosystems zu überfordern. 

Wut ergibt sich, wie bereits ausgeführt, als Reaktion auf physische oder psychische existenzielle Bedrohung beim (drohenden) Verlust des homöostatischen Ruhezustandes, des psychischen Grundzustandes der Seinsliebe. Diese Primärwut ist unmittelbare Konsequenz des Urschmerzes; sie drängt zum Handeln. 

Eine energetische, körperliche Reaktion auf existentiell bedrohlichen Liebesentzug

Die psychische Primärwut äussert sich hoch energetisch in spontaner und intensiver körperlicher Reaktion auf einen als existentiell bedrohlich erlebten Liebesentzug, als nicht zu übersehendes Signal des Primärselbst. «Wenn in den frühen Lebenstagen die Spannung zunimmt und nicht durch eine endgültige Vereinigung mit dem befriedigenden Objekt abgebaut wird, kommt es zu einer ohnmächtigen Wut.» 

Ausser beim wütenden Säugling begegnen wir dieser «heissen» Wut wohl am eindrücklichsten bei autistischen Kindern, die sich noch nicht total aus der Welt zurückgezogen haben. Wut ist hier Ausdruck eines Willens zur Autonomie, als verzweifelter Versuch des Säuglings, seine Eigenwilligkeit gegenüber einem die Eigenständigkeit nicht respektierenden Pflegeverhalten zu verteidigen, sich gegen widrige Umstände zur Wehr zu setzen.

Bei autistischen Kindern scheint das von zentraler Bedeutung zu sein. Die heftige Aggressivität, die in der Folge einer Verletzung des Primärselbst – als Bedrohung der physischen oder psychischen Existenz – erlebt wird, ist nur eine Form primärer Aggressivität. 

In ihrer Beschreibung der depressiven Position spricht MELANIE KLEIN im Zusammenhang mit einem angeborenen Zerstörungstrieb von «destruktiven Vorstellungen/Phantasien», die den Liebesimpuls beim Säugling begleiten sollen.

Bereits MICHAEL BALINT sowie später HEINZ KOHUT haben aber darauf hingewiesen, dass destruktive Impulse des Kleinkindes keineswegs angeboren sein müssen, sondern auf Grund von realen Versagungen erklärt werden können.

Gerade der Säugling lebt, im Gegensatz zu dessen Eltern, ausgesprochen in der Gegenwart und ist deshalb nicht durch phantasierte Wunschvorstellungen beeinflusst. Auch darf nicht vergessen werden, dass in diesem Stadium zwischen der allmächtigen Mutter und dem sich mit seiner «Bauchwut» für seine Rechte einsetzenden Säugling ein immenses Kraftgefälle besteht.

Die Bauchwut des Säuglings und die Rolle der Mutter

Einer einfühlenden Mutter wird es leicht fallen, durch liebevoll dosiertes Eingehen auf die «begehrlichen Bedürfnisse» ihres Kindes eine Balance zwischen Frustration und Befriedigung herzustellen, die als Lernprozess für das Kleinkind eine auch sozial erwünschte Wirkung zeitigen wird. 

Unbedingte Voraussetzung für das gute Gelingen ist allerdings, dass die Mutter in ihrem Liebeserleben erfüllt und nicht selber bedürftig, respektive verbittert ist. ANNEGRET WIESE hat in ihrem Buch «Mütter die töten» diese Problematik herausgearbeitet und auf die enorme Verbreitung von destruktiven Muttertendenzen hingewiesen. Nur wenn die Mutter aus einer emotional befriedigten Haltung heraus auf das Kind eingeht, kann sich das Kind ungestört entwickeln.

Die unschuldig-natürliche primäre Bauchwut, die der Selbstbehauptung des Kleinkindes dient, wird später häufig von der narzisstischen Wut überlagert, der heftigen Wut von Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Diese Menschen mussten sich zu früh an die Bedürfnisse ihrer Umwelt anpassen, um die Liebe der Bezugspersonen zu erhalten, anders formuliert wurden sie in ihrer eigenen Persönlichkeit als Kleinkinder zu wenig bestätigt.

Die sich daraus ergebende Selbstentfremdung führt zu einer bleibenden Abhängigkeit von äusserer Anerkennung und zu einer ständigen Suche nach Bestätigung durch andere. Narzisstisch gestörte Menschen – Unzählige in unserer Gesellschaft – reagieren mit intensiver, ohnmächtiger Wut bereits auf leichte Kränkungen. Je nach der psychischen Grundhaltung richtet sich diese Wut auf andere oder gegen sich selbst. 

Sehr früh lernt das Kind, dass seine aggressive Selbstbehauptung in Konflikt gerät mit den Selbstbehauptungstendenzen anderer. Aggressivität wird in unserer Gesellschaft auch beim Kind schlecht toleriert. Dass der unmittelbare Bewegungsausdruck zunehmend eingeengt und unterdrückt wird, führt einerseits zu Verdrängung, anderseits verschiebt sich das Interesse immer mehr in Richtung von Phantasien und Ersatzangeboten, die von den Medien und dem Markt reichhaltig angeboten werden. 

Die Sekundärwut 

Gewalt

These:
Gewalt als Spezialform der Sekundärwut wird nicht durch unmittelbar existentielle Bedrohung ausgelöst.

Ihre Motive und Auslöser liegen in der Vergangenheit, es geht dabei vorwiegend um Kränkung oder um Frustrationswut und um daraus resultierende Rachebedürfnisse

Hass und Gewalt stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zustand der Sekundärwut. Der Zusatz «sekundär» weist auf den Bezug zum Sekundärselbst und damit zur psychischen Verarbeitung im Zusammenhang mit Erinnerungen hin.

Im Alltag begegnen wir häufig mehr oder weniger subtilen Formen der Gewalt. Diese wird dann zielgerichtet, wohldosiert und rational eingesetzt und bietet dem Gegenüber möglichst wenig Angriffsflächen. Entsprechend sind Härte und Lieblosigkeit zu Merkmalen der Menschen in der westlichen Gesellschaft geworden.

Der tiefere Grund für subtile Formen von Gewalt

Gewalt entsteht aus sehr früh in der Kindheit beginnenden Frustrationserfahrungen, wenn der Ausdruck der Erregungslust verhindert wurde. Sie kann aber auch aus chronischem Mangel an Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeit für die Seinsliebe (d. h. für das Bedürfnis nach intim-nährender Geborgenheit) resultieren.

Der mit früheren Verletzungen und Mangelerfahrungen in Zusammenhang stehende psychische Schmerz ist um so verzehrender, je entbehrungsreicher die frühkindliche Periode von der betreffenden Person erlebt worden ist. Das Zusammenfallen von über viele Jahre angestauter Intimfrustration mit verstärkt einschiessender Erregungslust führt zu hochexplosiven Ausbrüchen und Gewalttaten – sei es bei Individuen oder bei ganzen Völkern. 

Nach den Untersuchungen von A. AICHHORN weisen Verwahrloste und Menschen, die sich als vom Schicksal benachteiligt betrachten, immer ein grosses Defizit an Liebesintimität auf. Erfahrungsgemäss ist bei ihnen die Wahrscheinlichkeit von kriminellen Akten erhöht; durch repressive Resozialisierungsmassnahmen wird diese Tendenz noch gefördert.

Die Frustrationstoleranz kann – abgesehen von früheren Kränkungserfahrungen – durch eine verwöhnende Erziehung oder infolge konstitutioneller Faktoren (deren Ursachen – vererbt oder intrauterin durch Noxen verschiedenster Art verursacht – umstritten sind) reduziert sein.

Von der Selbstunterdrückung zur Fremdunterdrückung

Gesellschaftlich addieren sich die einzelnen Frustrationsschicksale. Von der Selbstunterdrückung zur Fremdunterdrückung – dies ist der rote Faden, der sich durch die Geschichte zieht. Aus der gerechtfertigten Bauchwut des Säuglings zur Selbstbehauptung hat sich ein Gewaltpotential entwickelt, das, ausgelebt wird und so von den Erwachsenen an die Kinder sowie von den Männern an die Frauen weitergegeben wird.

Falls die indirekte Befriedigung scheitert, kommt es zur Frustrationswut, die mit der narzisstischen Wut in Zusammenhang steht. Frustrierte, in ihrer Lebensäusserung sich häufig selbst einschränkende Menschen, die sich über Disziplin und unbeugsamen Willen dazu zwingen, ihren hohen moralischen oder leistungsmässigen Ansprüchen zu genügen, können das nur über selbstaggressives Verhalten bewerkstelligen.

Permanente Selbstverleugnung und ständige Frustrationserfahrungen führen dazu, dasselbe Verhalten auch bei anderen durchzusetzen und sich gegen Mitarbeiter, Geschäftskonkurrenten, ja gegen die eigene Familie aggressiv und rücksichtslos zu zeigen. Dieses Verhalten bringt jedoch nur vorübergehende Entlastung, führt aber längerfristig zu Beziehungskonflikten, weil dadurch allzuviele Widerstände auf der Gegenseite erzeugt werden. 

Frauen und Wut

Die weibliche Sozialisation akzeptiert kein Ausleben der Wut, was zu einem gewaltigen unbewussten Gewaltpotential führt, wie das folgende Eifersuchtsdrama aus der Rubrik «Unfälle und Verbrechen» der Tagespresse zeigt: 

«Zwei Kugeln jagte Daniela T. (30) ihrem Freund Walter (26) in den Körper. Eine von hinten an der Wirbelsäule vorbei, die zweite gezielt von oben durch seinen Kopf. Dann zündete die Frau ihren toten Freund an und verscharrte ihn im Auslauf ihrer geliebten Pferde.» 

In einem alltäglicheren Beispiel begegnen wir einer neunzigjährigen Frau. Dieses Telefongespräch deckt unerwartet einen tragischen Hintergrund auf:

Etwas verstört ruft sie mich an, beunruhigt, sie wisse nicht welcher Tag es sei. Dann erzählt sie, wie die letzten Tage verlaufen sind, dass sie von mehreren Freundinnen, die sich um sie gesorgt hätten, besucht worden sei – eigentlich gehe es ihr gut …

Eben im Begriff, den Hörer aufzuhängen, sagt sie:
«Da ist noch etwas Merkwürdiges – jeden Tag, seit zwei Wochen erwache ich um sieben Uhr dreissig, und dann bin ich immer so nervös, ich weiss nicht, warum.»
Ich frage, ob es sie beunruhige, «weil sie wieder etwas machen müsse».
(Früher hatte sie mehrmals erzählt, dass sie in der Nacht aufgeschreckt sei, weil ihre Eltern sie ermahnten, dass sie «rechtzeitig in der Schule sein müsse» oder gar, «dass sie noch für Gäste einen Schinken in den Ofen legen sollte».)
Sie verneint. Ich erkundige mich, ob sie Mühe habe zu atmen und deshalb Angst verspüre. (Ihr Herz hatte sie schon mehrmals in der Nacht beunruhigt, so dass sie jeweils, um besser atmen zu können, aufstehen und Medikamente nehmen musste). 

Wieder verneint sie und sagt plötzlich:
«Ich habe schon Herzklopfen, aber es ist mehr – ich habe dann soo eine Wut!»

Es leuchtet ihr sehr ein, wie sie hört, dass gelegentlich, wenn wir nicht stark genug sind, um unsere Gefühle unter Kontrolle zu halten, «alte Geschichten» zum Vorschein kommen. Leute würden dann in Therapien mit den Fäusten auf Kissen klopfen und laut dazu schreien… «Aber ich kann doch nicht schreien, das gehört sich doch nicht, die Nachbarn würden denken, ich sei verrückt!» –
Neunzig Jahre unterdrückte, verdrängte Wut, das bedauernswerte Fazit eines erfolgreichen Lebens in der Leistungsgesellschaft. Sie soll nie geweint haben. So gut hatte sie ihr Kontrollsystem im Griff.

Die Wurzel von Gewalt

Über das Stichwort Ersatz begegnen wir der folgenreichsten Form von Gewalt, die der Mensch zu entwickeln fähig war. Wahrscheinlich führt diese Spur direkt zur Wurzel der Gewalt: Wie ich anhand der Verdrängungskaskade darstellen werde, hat sich unser hochdifferenziertes Sozialisationssystem mit den zunehmend komplexeren Verdrängungen ein Ersatzsystem für Liebe (beziehungsweise ein Copingsystem für die äusserst unangenehmen psychischen Schmerzen im Anschluss an die Erfahrung von Liebesentzug oder Liebesverlust) geschaffen.

Anstelle der echten Seelennahrung Liebe offerieren wir dem aufwachsenden Kind im Rahmen der Sozialisierungsbemühungen immer neue Ersatzbefriedigungen, mit denen sich das Individuum zunehmend identifiziert. Es erstaunt nicht, dass der von seinen Grundbedürfnissen entfremdete Mensch mehr oder weniger offen seine Frustration und seine Wut ausdrückt, im Interesse seines Selbstwertgefühls Ausdruck geben muss, falls sein unbewusstes Schuldgefühl nicht so gross ist, dass er es vorzieht, selbstaggressiv zu werden und sich selber zu schaden. Allerdings wird dadurch die angestaute Aggressivität nur teilweise, vorübergehend oder in leichten Fällen kompensiert werden.

Je kultivierter der Mensch ist, desto ausgeprägter entwickelt er die Fähigkeit zur Verdrängung sowie zur Befriedigung seiner sekundären Bedürfnisse durch Ersatz. Nach SIGMUND FREUD hat er keine andere Wahl. Als Belohnung wirkt ein grosses Mass an gesellschaftlicher Anerkennung.

Der Preis für diesen Vorteil ist aber hoch:
Individuell bedeutet es den Verlust der Fähigkeit, ursprüngliche körperlich-lustvolle Freude und intime Liebe zu erfahren. Als Kollektiv sind wir ungehemmt daran, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören.

Liebe und Macht 

Liebe und Macht sind nicht auf derselben und damit nicht auf einer vergleichbaren Ebene angesiedelt. Liebe ist zwar eine entscheidende menschliche Qualität. Der Alltag ist aber häufig durch biologische und ökonomische Faktoren geprägt, in denen die Macht über Sein oder Nichtsein bestimmt. 

Ursprünglich steht Macht im Dienst des Kampfs ums Überleben. Es geht – im Sinne eines Entweder-oder – kompromisslos um die eigenen Interessen im Kampf um die primären Bedürfnisse von Reviererhalt, Essen und Fortpflanzung. Die biologische Lebensrealität (Vitalität) setzt sich «für sich» ein und für seine «Horde». Macht in dieser Form ist in ihrer ursprünglichen Intention gekoppelt mit der primären Erregungsliebe.

Nicht ganz so einfach sind die Verhältnisse, wenn wir die Auswirkungen der sekundären Erregungsliebe im Machtkontext untersuchen. In ihrer engen Verknüpfung mit den Möglichkeiten des Verstandes kommt es zu erschreckenden Ausformungen der Gewalt, wobei es «nichts gibt, das es nicht gibt». Im folgenden Abschnitt werde ich mich mit einigen dieser Ausformungen befassen.

Die Kraft der Familie

BERT HELLINGER ist in seinen Familienaufstellungen auf Gesetzmässigkeiten gestossen, die – er spricht von Ordnungen der Liebe – das Gefühlsleben nicht nur genetisch, sondern auch durch familiäre Verstrickungen schicksalhaft beeinflussen. Die «Kraft der Sippe» und der Vererbung erhalten dadurch eine neue Dimension. 

Im wirtschaftlichen und im politischen Bereich ist die Bedeutung von Macht besonders eindrücklich – und erschreckend – zu beobachten. FRIEDRICH NIETZsches Kritik an der Doppelmoral der bürgerlichen Kleingeister mündet in der Beschreibung einer Welt von Herrenmenschen, die exakt mit dem Zustand unserer neoliberal globalisierten Welt übereinstimmt.

In der Sprache der heutigen Zeit formuliert: «The winner takes it all!» Als Extremform findet sich die Polarisierung zwischen übermächtigen Tätern, denen ein Heer von ohnmächtigen «Opfern» gegenübersteht.

Das streng hierarchisch geprägte Kommunikationsverhalten in der westlichen Welt, basierend auf vorgefassten Meinungen und kritisch wertendem Abschätzen des Gegners, ist weit von der von der Transaktionsanalyse angestrebten Position des «win-win» entfernt. 

Wie sich Menschen verhalten:
in Liebe oder mit Macht

In emotional belastenden wie auch in gruppentherapeutischen Situationen zeigt es sich exemplarisch, dass menschliches Verhalten überwiegend von zwei Grundeinstellungen geprägt ist: Entweder ich begegne meinen Mitmenschen aus einer Haltung der Liebe und des gegenseitigen Respektes heraus, oder ich verlasse mich vor allem auf meine Macht.

Der Film «Das Experiment» des Regisseurs OLIVER HIRSCHBIEGEL hat die Erkenntnisse, die PHILIP G. ZIMBARDO, Professor an der Stanford University in Palo Alto, 1971 im Verlauf des sogenannten Gefängnisexperimentes gewonnen hat, in der Form eines Psychothrillers festgehalten:
Es wird gezeigt, wie die erdrückende Mehrheit von durch eine Zeitungsannonce gesuchten Freiwilligen, die durch Losentscheid die Rolle der Aufseher ausübten, gegenüber den ebenfalls freiwilligen «Häftlingen» ohne zu zögern zu brutalsten Machtmitteln greifen. Dass die Mehrheit der Opfer durch ihre Unterwürfigkeit das ihrige dazu beiträgt, um die Anspruchshaltung ihrer Peiniger zu steigern, ist eine tragische Konsequenz nicht nur aus diesem Experiment, sondern aus der ganzen Menschheitsgeschichte. 

Das bestätigt mich in meiner Annahme, dass auch noch zweitausend Jahre nach der Botschaft von der christlichen Nächstenliebe die Beantwortung der Frage «Liebe oder Macht?» von ausschlaggebender Bedeutung ist.

Allerdings lässt sich auf diese Frage keine simple Antwort finden. Auf der Ebene «Macht» des Sekundärselbst werden die Informationen dualistisch rezipiert. Die Gegenposition ist der Zustand der Seinsliebe, der ausserhalb dieser Ebene liegt. Hier geht es nicht mehr um ein Entweder-oder und damit auch nicht um ein «Entweder du oder ich». Ist der «kommunikative Quantensprung» des Nichtwertens vollzogen, wird dieser Gegensatz irrelevant, die Philosophie vom Überlebenskampf hinfällig. 

Wer versucht, die Zenrealität in den Alltag zu integrieren und an die Stelle der vorgefassten Meinungen und des Konkurrenzdenkens die Werte der bewussten Seinsliebe zu stellen, wird von den Erfolgreichen unserer Leistungsgesellschaft belächelt. Gleichzeitig weist das grosse Interesse an Meditiationskursen auf eine geheime Sehnsucht nach diesen Werten hin. Soll allerdings Meditation vorwiegend zur Steigerung der Leistungsfähigkeit dienen, so fällt deren zentrales Anliegen einmal mehr dem Kommerz zum Opfer.

Macht, Gewalt und Geschlecht

Wie ich in der obigen These dargelegt habe, ist für mich Gewalt eine Form der sekundären Aggressivität und damit ein typisches Verhalten des Sekundärselbst. Sie wird nicht durch eine unmittelbare, existentielle Bedrohung ausgelöst, ihre Motive und Auslöser liegen in der mehr oder weniger bewusst erinnerten individuellen Vergangenheit. Häufig versteckt sich dabei –  die Wut dient hier als Deckgefühl – aber grosse Angst, die im Fight-or-Flight-Schema gesehen, durch die Flucht nach vorne, den Kampf, angegangen wird.

Sexuelle Gewalt – Phallus Macht

Der sexuellen Gewalt liegt eine Form von Macht zugrunde, die HIGHWATER als Phallus-Macht beschrieben hat. Es handelt sich dabei um eine physiologisch gesehen vorgegebene körperliche Übermacht des Mannes gegenüber der Frau. In diesem Kontext muss sexuelle Gewalt vorerst angesiedelt werden. 

Überraschend ist das unterschiedliche Verhalten in der Begegnung von Mann und Frau. Männer und Frauen blicken, wenn sie sich begegnen, kaum je in dieselbe Richtung. Kameraaufzeichnungen weisen nach, dass Frauen bei Männern vorwiegend auf die oberen Körperpartien blicken, während es vorwiegend der mittlere und der untere Bereich der Frauen ist, der die Blicke der Männer anzieht.

Auch der Kontext der Begegnungen wird häufig unterschiedlich erlebt. Da infolge von Projektionen meist die eigene Befindlichkeit auf den anderen übertragen wird, ergibt sich durch den Mangel an einfühlender Abschätzung der gegengeschlechtlichen Befindlichkeit, wie sie besonders für männliche Annäherungen typisch ist, ein grosses Potential für Missverständnisse. 

Bei dieser Ausgangslage erstaunt es nicht, dass spontane Begegnungen von den Beteiligten oft unterschiedlich bewertet werden. Der sich biologisch gesehen rollengerecht verhaltende Mann muss sich bei möglichst vielen Frauen durchsetzen, unabhängig davon, ob diese Frauen sexuell hochgradig erregt sind oder nicht. Erzwungener Beischlaf kann aus dieser Sicht als adäquates Verhalten betrachtet werden (im Kontext der Situation in der heutigen Gesellschaft ist dieser biologische Faktor natürlich kein rechtfertigendes Argument). 

Nicht biologisch bedingt sind die Sozialisationsmuster «vom Mann, wie er zu sein hat». Dem Idealbild männlicher Identitätsvorstellungen nicht entsprechende Bilder beziehungsweise Bedürfnisse werden dabei mit aller Kraft verdrängt. Die überhöhten Ideale aus alten und neuen Heldensagen richten sich weniger nach einem realen väterlichen Vorbild als nach Clichévorstellungen vom «Macho», der lieber sein Leben opfert, als dass er als «Softie» glücklich durchs Leben kommt; der moderne Mann ist idealerweise ein Macher, der Leistung erbringt und auch im Bett ganze Arbeit leistet.

Je schwächer das Selbstwertgefühl, um so stärker die psychologische Notwendigkeit, sich mit extremen Rollen zu identifizieren. Eigenschaften, die dem von der Mutter her vertrauten Gegengeschlecht zugerechnet werden, werden mit «weibisch» oder «schwul» in Zusammenhang gebracht und verdrängt.

Sucht und Aggressivität

In diesem Zusammenhang ist eine Studie der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme aus dem Jahr 1998 interessant, die der Frage nach der schützenden Wirkung von Sport in bezug auf das Suchtverhalten von Jugendlichen nachgegangen ist. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung zeigte es sich, dass eine Schutzwirkung nur für Sportarten nachgewiesen werden konnte, die nicht aggressives Verhalten bedingten oder die nicht als gefährlich eingestuft werden können.

Bei typisch männlichen Sportarten wies die Studie eine stark erhöhte Suchtbereitschaft bezüglich Rauchen, Haschisch- und Alkoholkonsum nach. Mit anderen Worten gelang es stark unter dem Einfluss von Testosteron stehenden Sportlern weniger gut, ihre aggressiven Tendenzen ohne Betäubung mit Drogen unter Kontrolle zu halten. 

Testosteron, das beim Mann vorwiegend in den Hoden produzierte Geschlechtshormon, bringt uns zurück zur biologischen Basis unserer Gefühle und zu Rollen, die wir, so peinlich uns das möglicherweise auch ist, weitgehend mit unseren nächsten tierischen Verwandten (über 98,5% unserer Erbmasse) teilen.

Die Verwandtschaft geht allerdings weit über die Menschenaffen hinaus, wie das anhand «allzu menschlich» eingesetzter Strategien im Kampf um das Überleben bei allen Arten von Tieren eingesetzte Imponiergehabe zeigt. Über die Einschüchterung des Gegners bis hin zum körperlich hart ausgetragenen Duell zwischen zwei konkurrierenden Liebhabern übernehmen wir Männer viele dieser Verhaltensmuster. 

Physisch gesehen besteht, wie bereits erwähnt, ein Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau. Was das Beharren auf der psychischen Überlegenheit des Mannes betrifft, so dürfte die Urangst des Mannes vor der allmächtigen Mutter und damit unbewusst wohl vor jeder Frau grundlegend am enormen Druck zur Machtausübung beteiligt sein. Ganz abgesehen davon, dass dieses Verhalten viele praktische Vorteile, wie die Delegation der kaum honorierten Haushalt-, Erziehungs- und Sozialarbeit an die Frau sowie die Entlastung von komplizierten Gefühlskonflikten durch die dafür «besser geeigneten» Frauen, mit sich bringt.

Auf der anderen Seite dürfen aber auch die Einflussmöglichkeiten  des sogenannten «schwachen» Geschlechts (Frauenpower) in diesem jahrtausendealten Geschlechterkampf nicht ignoriert werden. 

OSHO vertritt die Ansicht, dass beim sexuell unterdrückten Menschen der Liebes- oft zum Gewaltakt verkommt:
«Es wird viel Aggression im Liebesakt stecken. Denn nie beobachtet ihr euch gegenseitig in der Sexualität, ihr wisst nicht, was sich abspielt, und ihr könnt nicht wissen, was da mit euch passiert, weil ihr fast immer in einem sehr aggressiven Zustand lebt.

Das ist der Grund, warum ein tiefer Orgasmus durch Liebe unmöglich wird, denn tief drin habt ihr Angst, … grosse Angst vor euerer eigenen Wut. Das nächste Mal beim Sex beobachtet es: Ihr werdet die gleichen Bewegungen machen, die man macht, wenn man aggressiv ist. Beobachtet das Gesicht, habt einen Spiegel zur Hand, so dass ihr sehen könnt, was in euerem Gesicht passiert! All diese Verzerrungen der Wut und der Aggression werden da sein!»

Die Tatsache, dass viele Paare erst nach einer heftigen Auseinandersetzung «befriedigend» miteinander schlafen können, würde damit auf einfache Weise erklärt. Je vollständiger die Wut ausgelebt wird, um so offener sind wir anscheinend für die Bedürfnisse der intimen Liebe. 

Gewalt und Sexualität zur Versöhnung

Ein ungewohntes Verhalten im Zusammenhang von Gewalt und Sexualität zeigen Bonobos. Das sind Menschenaffen, ähnlich ihren nahen Verwandten, den Schimpansen. Trotzdem zeigen sie aber ein völlig anderes, weniger aggressives Verhalten, wie Untersuchungen, über die der Verhaltensforscher FRANS DE WAAL berichtet, aufzeigen:
Diese hoch entwickelten Primaten setzen wirkungsvoll Sex, auch im Sinne des «Heavy Petting», zur Konfliktlösung sowohl zwischen gegen- wie gleichgeschlechtlichen Tieren ein. Durch intimen Körperkontakt versichern sie sich immer wieder nach konfliktreichen Auseinandersetzungen, häufig schon vorher, ihres gegenseitigen Wohlwollens, und ersparen sich auf diese Weise unnötige Gewaltanwendung.

«Ungeklärte Besitzverhältnisse – beim Drängeln um das Futter oder um eine Spielzeugschachtel im Zoo – führen bei den meisten Affenarten zu Streitereien. Nicht so bei den Bonobos», schreibt DE WAAL, «… sie reagieren mit sexueller Aktivität und entspannen so – meist durch gegenseitiges Reiben der Genitalien – die Situation. Schlägt eine Bonobofrau ein fremdes Kind, so stürzt dessen Mutter herbei, um es der Angreiferin heimzuzahlen. Danach aber wird sie sich durch intensives Genitalreiben mit ihr versöhnen.»

Inwieweit für uns Menschen diese Form der Gewaltvermeidung anwendbar wäre, ist eine offene Frage. Eine weniger durch Besitzansprüche und enge Moralvorstellungen geprägte Verhaltensweise in sexueller Hinsicht würde mit grosser Wahrscheinlichkeit allein über hormonell sich einstellende Mechanismen die Gewaltbereitschaft stark reduzieren. Möglicherweise handelt es sich allerdings, wie zwischen Bonobos und Schimpansen, auch bei uns Menschen, um ein genetisch festgelegtes, hormonell übermitteltes unterschiedliches Verhalten.

Massenpsychologische Phänomene:
der heilige krieg

Mindestens so fatal für die Masse wie für das Individuum sind die gesellschaftlichen Auswirkungen von autoritär-repressiven Glaubensystemen religiöser, pseudoreligiöser, aber auch anderer ideologischer Ausprägung mit ihren ins Absolute erhöhten Symbolen, deren Wahrheitsgehalt für die Anhänger nicht überprüfbar ist, weil die sinnliche Wahrnehmung durch die ideologische Indoktrinierung überlagert wurde. Im Namen der Ideologie wird jeder Krieg gerechtfertigt, im Namen der Religion als «heiliger Krieg» proklamiert. 

WILHELM REICH hat diesen massenpsychologischen Phänomenen schon zu Beginn der Naziherrschaft, d. h. bereits 1933, die Studie «Massenpsychologie des Faschismus» gewidmet, eine Schrift, die auch nach Hitler und Mussolini nichts an Aktualität eingebüsst hat. Darin zeigt REICH auf, dass die faschistische Grundhaltung über den Rechtsradikalismus hinaus auch «links» oder «im Zentrum» und insbesondere als religiöser «Faschismus» weit verbreitet ist.

Nur wer den sexuell unterdrückten Faschisten in sich selbst erkennt, hat eine Chance, gegen diese «seelische Pest» gefeit zu sein. Sonst werde er/sie im Namen eines höheren Ausgewähltseins «den Blick nach oben wenden, ‹die anderen, Minderwertigen und Schmutzigen› bekämpfen und – in paradoxer Verkennung der eigentlichen Situation – sich mit den Unterdrückern, den autoritären patriarchalen Strukturen in Familie und Gesellschaft identifizieren». Damit geben diese Menschen, als scheinbar unabhängige Erwachsene, ihre persönliche Freiheit zum zweiten Mal auf. 

Bei Nachkontrollen in den USA und in England zeigte es sich, dass die Mehrheit der Soldaten mit der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung nie mit dem Feind in Berührung gekommen war, dass der Zusammenbruch also durch Todesängste und Stress verursacht wurde. Demgegenüber übte die Mehrheit der Männer, die jahrelanges Töten verinnerlicht hatten, nach ihrer Rückkehr ins Zivilleben ohne Skrupel und scheinbar unbeschadet ihre Alltagstätigkeiten aus, ohne durch kriminelle Handlungen oder durch psychische Labilität aufzufallen. (Immerhin litten nach GROSSMANN 18-54% der Vietnamveteranen an PTSD, d. h. 500’000 bis 1,5 Millionen der 2,6 Millionen am Vietnamkrieg Beteiligten.) 

Entscheidend für das seelische Wohlbefinden war die Solidarität mit der Gruppe, das «Aufgehobensein in einer innigen Mannschaft mit zuverlässigen Kameraden, unter einem Vorgesetzten, dessen Zuneigung mit Tüchtigkeit erworben werden konnte». 

Erleichtert wurde die Selbstlegitimation zur Gewaltanwendung durch unterstützende Ideologien im Sinne der Projektion des «Bösen» auf den fremden anderen, der aus rassischer, religiöser oder anderer Ideologie zum Nichtmenschen gestempelt und dessen Tod bedenkenlos hingenommen wurde.

Die Projektion führt zu einer Aufteilung der Welt in gute, liebenswerte Freunde und unmenschlich gewalttätige Feinde, die vor nichts zurückschrecken. Sie dient als Rechtfertigung für die eigenen Greueltaten, um sich der Verantwortung gegenüber der selbst ausgeübten Gewalt zu entziehen. Wer nicht mitmacht, ist ein Nestbeschmutzer, weil er die Aufrechterhaltung der Projektion in Frage stellt. 

Frauen sind dabei keineswegs ausgeschlossen. Ihre Gewaltausübung findet allerdings im allgemeinen nicht im Kollektiv statt, sondern geschieht in ihrem engeren Umfeld. Nach CLAUDIA HEYNE misshandeln Mütter ihre Kinder ungefähr gleich häufig wie Väter sowohl körperlich wie seelisch; Gewalt gegen alte Menschen wird sogar überwiegend von Frauen begangen.

Gewalt durch Umweltzerstörung

Gewalt richtet sich nicht nur gegen Menschen und nicht nur gegen «Feinde». Auch die Umweltzerstörung gehört – wie die industrielle Tierhaltung – in diese Kategorie. Wie bei den Feindprojektionen wird auch hier eine Rechtfertigung gesucht für das eigene gewalttätige Handeln.

So ist eines der folgenreichsten «Entlastungskarussells» entstanden: Wir Bewohner der ersten Welt entlasten uns auf Kosten der Umwelt und zusätzlich auf Kosten der Bewohner der dritten Welt. Unsere Umweltbelastung wird im Vergleich zum Mehrkonsum an Energie kleiner, und was an Müll übrig bleibt und unsere Umwelt belasten könnte, exportieren wir in ferne Länder.

Angetrieben durch die Machermentalität unserer Leistungsgesellschaft, zusätzlich gepriesen durch Geld- und Machtgier, dreht sich die letztlich selbstzerstörerische Konsumspirale mit immer grösserer Geschwindigkeit um den ganzen Erdball und verschont dabei auch die letzten Meerestiefen und die abgelegensten und unzugänglichsten Wälder nicht. 

Der Bezug zwischen Hass und Wut

Häufig wird Hass als das Gegenteil von Liebe definiert. Wie ich im Modell zur Entstehung der negativen Grundgefühle aufgezeigt habe, ist für mich der psychische Primärschmerz die unmittelbare psychische Reaktion auf den Verlust der Seinsliebe, auf den Liebesentzug.

Die Primärwut respektive die Primärangst wird durch die elementaren Mechanismen – Flucht oder Aggressivität – ausgelöst, welche diese unmittelbar schmerzhaften Folgen abwenden. Die zentrale Frage bezüglich des Hasses ist somit nicht nach dessen Zusammenhang mit der (primären Erregungs-)Liebe sondern mit der Wut, denn Hass ist nach meinem Verständnis ein mit ausserordentlich heftigen Rachebedürfnissen belegtes Gefühl. 

Je geringer der Anteil an zugelassener primärer Wut ist, um so mehr ist die Sekundärwut des Sekundärselbst mit kaltem Hass identisch. Die Wut über die zugefügte Ich-Kränkung macht den Hauptteil der freigesetzten Energien aus. Zum Zug kommen Mechanismen des Ich auf der Grundlage von vorgefassten «Meinungen» respektive Glaubenssätzen.

Die primäre Wut ist meist nicht vollständig verdrängt, Primär- und Sekundärwut sind daher häufig vermischt. Je schlechter die Willenskontrolle funktioniert, desto «heisser», d. h. emotionaler wird der durch die primäre Bauchwut gespeiste Hass sein; je «kopfgesteuerter» der Gekränkte ist, desto kälter und berechnender erscheint seine Reaktion. 

Der Primärhass des Fötus bei Abtreibungsversuch

Aus der pränatalen Forschung ergeben sich deutliche Hinweise für schwere psychische Auswirkungen auf das noch Ungeborene beim Versuch einer Abtreibung. Theoretisch ist vorstellbar, dass dadurch im Fötus ein unspezifischer Vernichtungswunsch entsteht. Ich würde in diesem Falle von Primärhass sprechen, der zusätzlich zur Primärwut einen absoluten Zerstörungsdrang beinhaltet und vom Primärselbst ausgeht.

Ursache ist das, was ich als primäre Kränkung bezeichnet habe. Eine frühe Form des Hasses im Sinne eines imperativen Vernichtungsdranges gegen andere (und gleichzeitig verdeckt gegen sich selbst) begegnet uns bei autistischen Kindern, aber auch bei Borderline-Persönlichkeiten. Man kann auch hier von einem Primärhass sprechen. 

Bereits beim Fötus kann die Entstehung eines Sekundärhasses postuliert werden, wenn es sich bei dem Gefühl nicht um eine Reaktion auf existentiell erfahrene pränatale Bedrohung handelt, sondern um die Übernahme von Gefühlen der Mutter, die ja mit dem Fötus in vielfältiger Weise unmittelbar verbunden ist.

Derselbe – hormonell mitgesteuerte – Prozess würde zum Tragen kommen, wenn die Mutter einen abgrundtiefen Hass, auf wen auch immer, als Dauerzustand in sich trägt, den der Embryo oder Fötus sekundär im Sinne einer «psychischen Infektion» übernimmt. Eine spätere Form eines übernommen und damit sekundären Hasses ist die mit einer familiären Verstrickung in Zusammenhang stehende Übernahme eines – möglicherweise schon über Generationen unbewusst weitergegebenen – «Sippengefühls» (nach HELLINGER). 

Dass beim Menschen nach SIGMUND FREUD ein destruktiver Todestrieb oder nach MELANIE KLEIN ein primärer hasserfüllter Sadismus angeboren sein soll, hat wohl kaum mit einer menschlichen Grundanlage zu tun. Auch die Erfahrung von BERT HELLINGER, nach der mindestens die Hälfte der Beziehungsprobleme über die Verstrickung, resp. Identifikation mit Familienmitgliedern früherer Generationen zu erklären sind, spricht nicht für eine Vererbung.

Der Prozess der Identifizierung verläuft auch hier über die Sozialisation. Ich habe jahrelang in Gruppentherapien getobt, um blockierte Energien zu lösen; ich bin überzeugt, dass die Ursache dafür nicht angeboren, sondern reaktiv ist, mag auch die Verletzung noch so weit zurückliegen oder gar intrauterin erfolgt sein. Wer je gesehen oder selbst erlebt hat, wie ein Temper tantrum – ein körperlich dramatischer Tobsuchtsanfall – bei einem Erwachsenen abläuft, wird diese Erfahrungen teilen. 

Die gewaltigen Energien, die zur Auslösung eines Temper tantrum führen, bleiben über zwanzig, fünfzig und mehr Jahre unverändert im Körper gespeichert und damit auch blockiert. Es leuchtet ein, dass Verdrängen und Sublimieren keine Lösungen darstellen.

Entweder, die angestauten Energien können sich in geschütztem Rahmen, im Verlauf einer Therapie ausdrücken, oder sie führen zu all den «unverständlichen» kleinen und grösseren körperlichen und psychischen Gewalthandlungen, die die Medien täglich unter der Rubrik Unglücksfälle und Verbrechen verbreiten; diese «Mitteilungen», die als Ersatzphantasien von unzähligen Aggressionsgehemmten konsumiert werden, bilden das Kerngeschäft der in Millionenhöhe aufgelegten Boulevardpresse. 

Ausdrücken heisst allerdings nicht unbedingt, sich lauthals oder gar durch das Einschlagen auf ein Kissen unmittelbar körperlich abzureagieren. Dies mag in einer ersten Phase sinnvoll sein, um überhaupt mit der enormen Kraft der aufgestauten Energien in Kontakt zu kommen. Wirklich heilend wird aber erst das Zulassen des zu Grunde liegenden Schmerzes über den Liebesentzug. 

Suizid als Gewalt gegen sich selbst

EDWIN SHNEIDMAN vertritt nicht nur die Ansicht, «dass der gewöhnliche Stimulus für den Suizid unerträglicher psychischer Schmerz ist». Er kreiert gleich noch das Wort Psychoschmerz für sein Standardwerk «Suicide as Psychache». Als Ursache für diesen Schmerz nennt er frustrierte psychische Bedürfnisse.

Sein Versuch, diese Bedürfnisse näher festzulegen, ist allerdings wenig erfolgreich. Aus einer grossen Liste von über zwanzig Möglichkeiten (nach MURRAY) scheint mir in unserem Kontext einzig der Begriff «Succorance» («Unterstützung») schlüssig zu sein.

«Unterstützung: Dies bedeutet, dass die Bedürfnisse über die empathische Hilfe einer anderen Person gestillt werden. Gepflegt, unterstützt, erhalten, beschützt, geliebt, beraten, geführt, verwöhnt, vergeben, geströstet und umsorgt werden. Nahe bei einem hingebungsvollen Beschützer zu sein. Jemanden zu haben, der mich stützt.»

Wie kompliziert, wenn das einfache Wort Liebe nur indirekt als eines von vielen Adverben zur Verfügung steht.

Wurzeln der Gewalt 

These:
Akte «blinder» –psychisch bedingter – Gewalt, d. h. nicht durch die unmittelbare Notwendigkeit der existentiellen physischen oder psychischen Selbstverteidigung ausgelöste Gewalt, richten sich im Grunde genommen nicht gegen Partner, Kinder oder irgendwelche «Feinde», sondern gegen die Eltern

Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass Akte blinder Gewalt im Sinne von These letztlich gegen die Eltern gerichtet sind. Diese wirken ihrerseits, als Vollzieher gesellschaftlich sanktionierter Erziehungsaufgaben, im Interesse der Sozialisation.

Sie geben – oft unbesehen – weiter, was sie selber mitbekommen haben, sie schaffen das «Feld von Sekundäreinflüssen im Rahmen der Sippe», dem sich das Primärselbst des Kindes in seiner Offenheit nicht entziehen kann.

Die Familie – Grundlage von Gewalt

Die versteckte und bis vor kurzem weitgehend tabuisierte Gewalt innerhalb der Familie bildet mit grosser Wahrscheinlichkeit die breite Basis der Gewaltpyramide. UDO RAUCHFLEISCH hat in seinem Buch «Allgegenwart von Gewalt» eine Fülle von entsprechenden Beispielen und Statistiken aufgeführt.

DORNES schreibt im Zusammenhang mit von Gewalt betroffenen Kindern:
«Das Problem misshandelter Kinder und Patienten besteht in der Regel nicht darin, dass sie ein nicht stattgefundenes Trauma phantasieren oder konfabulieren, sondern eher darin, dass sie ein real stattgefundenes in ihrer Phantasie verleugnen.

Die Aufhebung dieser Verleugnung durch die Anerkennung der Realität der Traumatisierung ist in vielen Fällen der entscheidende Wendepunkt in der Behandlung.» – «… der signifikante Zusammenhang zwischen diesen Traumen und späteren schweren Psychopathologien wie Dissozialität, Prostitution und Drogensucht … weist auf die grosse Bedeutung dieses Verdrängungsverhaltens hin.» 

Falls sie über genügend Lebenskraft verfügen, besteht die Wahrscheinlichkeit dass diese früh Misshandelten fremddestruktiv werden. Der Mehrheit wird jedoch das Rückgrat ein für alle Mal gebrochen, sie ergeben sich damit in ihr Schicksal als gezähmte Teile der grossen schweigenden Mehrheit. 

Gewalt und Schuldgefühle 

In Studien über gewalttätige Männer zeigt sich eine gesetzmässige Spirale der Gewalt: Werden zu Grunde liegende Konflikte nicht angesprochen, sondern umgangen und vermieden, so besteht keine Möglichkeit, für sein Verhalten persönlich Verantwortung zu übernehmen.

Stattdessen stellt sich, mehr oder weniger bewusst, ein Gefühl der Schuld ein. Um sich davon zu «erlösen», wird ein Teufelskreis von unerwartetem Gewaltdurchbruch, verstärktem Schuldgefühl, erneuter Abwehr und erneutem Gewaltdurchbruch etc. in Gang gesetzt.

Anstatt in offener Diskussion und Auseinandersetzung die «Schuld» zu klären und wenn möglich zu deren Wurzeln vorzudringen, machen sich diese Täter selbst vor, dass «es» nicht mehr geschehen werde – sie glauben selbst daran -, bis «es» doch wieder passiert. Dadurch vergrössern sich die Schuldgefühle, noch mehr Energie wird an diesen Komplex gebunden. Neue Gewalt entlädt die angestaute Energie und bringt eine vorübergehende emotionale Entlastung mit sich, ähnlich wie das über sexuelle Ersatzhandlungen geschieht. 

Bei der Aufzählung dieser Verhaltensweise taucht wie selbstverständlich das frühe sexuelle «Verschulden» auf, jene zur Sünde deklarierte Selbstbefriedigung. Auch dort sollte «es» nicht wieder geschehen, und doch ist es immer wieder passiert – je grösser die Anstrengung, um so aussichtsloser der Erfolg.

Um den Sozialisationsprozess zu verstärken und zu beschleunigen, wird Kindern so früh wie möglich beigebracht, ihre Erregungslust zu kontrollieren und bei den natürlichen Körpermanifestationen Ekel, Schuld und Scham zu empfinden.

SIGMUND FREUD hat 1915 Menschen nachuntersucht, die im Jugendalter und in der Vorpubertät strafbare Handlungen wie Diebstähle, Betrügereien und Brandstiftungen begangen hatten.

Zum Zeitpunkt der Analyse war es ihnen gelungen, sich sozial wieder anzupassen:
«Die analytische Arbeit brachte dann das überraschende Ergebnis, dass solche Taten vor allem darum vollzogen wurden, weil sie verboten und weil mit ihrer Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter verbunden war. Er litt an einem drückenden Schuldbewusstsein unbekannter Herkunft, und nachdem er ein Vergehen begangen hatte, war der Druck gemildert. Das Schuldbewusstsein war wenigstens irgendwo untergebracht.»

DONALD WINNICOTT ergänzt:
«Zwar bezieht sich Freud auf spätere Entwicklungsstadien, aber was er schreibt, gilt auch für Kinder. … Die erste (Art des antisozialen Verhaltens) ist weit verbreitet und eng verbunden mit der gewöhnlichen Ungezogenheit gesunder Kinder.

Im Verhalten zeigt sie sich in Stehlen, Lügen, in Destruktivität und Bettnässen. Wiederholt finden wir, dass diese Handlungen einen unbewussten Versuch darstellen, einem Schuldgefühl Sinn zu geben. Das Kind oder der Erwachsene kann an den Ursprung seines unerträglichen Schuldgefühls nicht herankommen, und der Umstand, dass sich das Schuldgefühl nicht erklären lässt, erzeugt ein Gefühl der Verrücktheit.

Der antisoziale Mensch schafft sich ein Gefühl der Erleichterung, indem er sich ein begrenztes Vergehen ausdenkt, das nur auf verborgene Weise dem Vergehen in der verdrängten Phantasie gleicht, das zum ursprünglichen Ödipuskomplex gehört.»

Anstatt zu sehen, dass im Grunde genommen nicht der sogenannt antisoziale Mensch krank ist, der eine Ursache für seine Schuldgefühle erst schaffen muss, weil er sich keiner wahren Schuld bewusst ist – respektive, dass er sekundär erkrankt ist –, sondern die über die elterliche Erziehung wirkende Gesellschaft, unterstützt WINNICOTT die Vorstellung vom schuldhaften Ödipuskomplex. Dies, obwohl die entsprechenden Vorstellungen erst auf Grund der Verdrängungskaskade auftauchen konnten.

Wird Kindern aus für sie nicht einfühlbaren Gründen die elterliche Zuwendung entzogen oder vorenthalten (Liebesentzug= Liebesverlust), so wagen sie aus Angst vor weiterem Liebesverlust oft nicht, ihrer Wut über den Verlust Ausdruck zu geben, und so entstehen diffuse Schuldgefühle.

Haben Angst und Spannung, die mit diesem unklaren Gefühl verknüpft sind, eine gewisse Intensität erreicht, ziehen es diese Kinder vor, «klare Verhältnisse» zu schaffen: Sie begehen eine Tat, von der sie wissen, dass sie verboten ist. Damit sind sie, ähnlich wie es GAETANO BENEDETTI im Zusammenhang mit Verhaltensweisen von schweren Triebtätern beschrieben hat, «vor sich selber» schuldig. Gleichzeitig «entschuldigen» sie damit ihre Erzieher. – Das Opfer entlastet den Täter, indem es sich selbst zum Täter macht. 

Gewalt durch Kinder und Jugendliche

Die Ursachen für die zunehmende Gewalt von Kindern und Jugendlichen sind multifaktoriell. Ein zentrales Motiv ist zweifellos die Angst; entsprechend sollte Gewalt hier als Hilferuf, als Flucht nach vorn gesehen werden.

Dies gilt nicht nur für die USA, wo diese Angst begründet ist, sind doch Jugendliche zwischen zwölf und fünfzehn Jahren zehnmal so oft Opfer von Gewaltverbrechen wie alte Leute! Allgemein fühlen sich immer mehr Jugendliche durch die Aussenwelt und häufig auch durch die Gewalttätigkeit, die sie innerhalb ihrer Familien erleben, bedroht.

Gewalt und das Bedürfnis nach Raum

Dass Gewalt und das Bedürfnis nach Raum eng miteinander zusammenhängen, ist – abgesehen von dem bereits erwähnten Rattenexperiment von CALDOUN – vielfach belegt.

In einer grossen Studie der WHO zeigt sich, dass nicht nur die Alterssuizidalität, sondern auch der jugendliche Vandalismus parallel mit der Zahl der Stockwerke ansteigt, in denen die Betreffenden in grossstädtischen Hochhäusern wohnen.

Raum allein genügt aber nicht, damit Kinder ihre Schaffenskraft ausleben können. Ohne Material, ohne Steine, Sand und Bäume und insbesondere auch ohne Tiere und Mitmenschen fehlt das Medium über das sie sich ausdrücken können. Die Arbeit mit wahrnehmungsgestörten Kindern nach FELICIE AFFOLTER zeigt, dass Kinder, die in der Frühphase zu wenig (u. a. in der Umarmung) körperlichen Widerstand erfahren haben, weiche Materialien als bedrohlich empfinden. Nur harte Geräte geben ihnen genügend Halt, nötigenfalls auch ein zweckentfremdeter Baseballschläger. 

In unklaren Situationen mag die Neugier, die bei Kindern und Jugendlichen einem wichtigen Grundbedürfnis entspringt, eine Ursache für gewalttätige Handlungen sein. Käfern die Beine und die Flügel auszureissen und «sehen, was passiert» wäre dann eine harmlose Jugendsünde; die Kombination mit Rachegefühlen ergibt aber auch hier ein gefährliches Gewaltpotential. 

Gewalt in den Medien

Dass die Gewalt im Fernsehen die Situation verschlimmert, wird heute nicht mehr bezweifelt. Dies hat wohl einen doppelten Hintergrund:
Einerseits wird Gewalt in den Medien als selbstverständliche Problemlösungsstrategie propagiert. Das allein ist im Hinblick auf die grosse Beeinflussbarkeit der jugendlichen Zuschauer und die enorme Suggestibilität der «Wirklichkeit Fernsehen» Grund genug zur Besorgnis.

Ein zweiter Faktor ist noch bedenklicher:
Die virtuelle Welt erscheint so real, dass es für die immer mehr fremdbestimmten und damit nicht mehr auf sich selbst bezogenen Kinder und Jugendlichen zunehmend weniger möglich wird, Gespieltes von Wirklichem zu unterscheiden.

Das gilt in noch ausgeprägterem Mass für Videospiele:
Am meisten Punkte erhält in gewissen Spielen derjenige, der am meisten Menschen umgebracht hat. So werden einerseits die abscheulichsten Verbrechen zu alltäglichen Selbstverständlichkeiten, andererseits weiss ja jeder, dass da nur gespielt wird, dass das gezeigte Blut in Wirklichkeit nur Ketchup aus der Tube ist, dass Tote schon im nächsten Film wieder fröhlich mitmachen …

Eltern von kindlichen Gewaltopfern, die in den USA gerichtlich ein Verbot der Produktion dieser Spiele erreichen wollen, sprechen von Mörderschulen, DAVE GROSSMAN, ein langjähriger und angesehener Psychologe der Armee, spricht von einer Schule zum Massenmörder.

In seiner überaus gründlichen Monographie «On Killing, The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society» weist GROSSMANN nach, dass die Hemmschwelle gegenüber dem Töten von Artgleichen ursprünglich auch beim Menschen sehr gross ist.

Erst über den möglichst früh (d. h. bereits bei Jugendlichen) ansetzenden Mix von Drill, Gruppendruck, Autorität und Siegermoral gelingt es, das Tötungstabu zu durchbrechen. Das Fazit das GROSSMANN aus seinen ausgedehnten und langjährigen Studien 1995 gezogen und bereits im Titel seines Werkes festgehalten hat, sollte Pflichtlektüre nicht nur im mordgeplagten Amerika, sondern auf der ganzen Welt sein: Auf unheimliche Weise haben sich die ursprünglich für rein militärische Zwecke konzipierten Programmierungsmethoden über die enorme Wirkkraft von Medien und Computerspielen verselbständigt.

Vor dem Fernseher wird die Gefühlsenergie mit Softdrinks und Peanuts verdrängt, zusammen mit anderen «Rabattmarken» stauen sie sich zu einem explosiven Gebräu.

Eine Untersuchung im Kanton Zürich belegt, dass rund ein Viertel der Kinder und Jugendlichen eine oder mehrere psychische Störungen oder Verhaltensstörungen aufweisen. Dabei sind Knaben doppelt so häufig betroffenwie ihre psychisch stabileren Kolleginnen.

Das Gewaltkarussell

Auch hier zeigen sich die typischen Merkmale des Gewaltkarussells: Je grösser der psychische Druck und die Unberechenbarkeit der Eltern, je grösser der wahrgenommene Konkurrenzdruck zwischen den Mitschülern sowie die empfundene Kontrolle und der Leistungsdruck des Lehrers, um so mehr erhöhen sich Aufmerksamkeitsprobleme sowie Ängstlichkeit und depressive Stimmung. 

Je tiefer das Selbstwertgefühl, um so eher schlägt die Stimmung in Aggressivität um. Dies trifft insbesondere auf Jungen zu, da sie stärker als die gleichaltrigen Mädchen dazu neigen, Probleme zu vermeiden. Häufig geben sie das Hackordnungsprinzip, das sie zu Hause beobachtet und als Leidende am eigenen Körper erfahren haben, an «noch Schwächere» weiter.

Der zunehmende Leistungs- und Profilierungsdruck, dem Jugendliche ausgesetzt sind, führt dazu, dass die weniger Erfolgreichen im gewalttätigen Verhalten eine geeignete Möglichkeit sehen, sich auszuzeichnen. 

«Gewalt macht Spass» !?

Dieses «Markenzeichen» von Hooligans und Skinheads formuliert eine Extremform der Gewalttätigkeit. Das Verhalten ist nicht unerklärlich: Der eigene psychische Schmerz kommt im Schmerz des Opfers in projizierter Form zum Ausdruck, die Täter waren selbst häufig Opfer von Kindsmisshandlung.

Bei diesen grob pathologischen Formen von Gewalt, wie sie auch durch fehlgesteuerte Erregungsliebe als Vergewaltigung des Partners oder in spektakulären sado-masochistischen Praktiken zum Ausdruck kommen, handelt es sich nach meinem Dafürhalten um Extremformen von Verhaltensweisen, die in gesellschaftlich akzeptierter Form weit verbreitet sind, beim einzelnen wie kollektiv.

Zwei in ihrer Brutalität kaum zu überbietende Weltkriege haben es nicht vermocht, den Gewaltverzicht als notwendig erscheinen zu lassen. «Nie wieder Krieg!»-Parolen, Friedensmärsche und die Vereinigten Nationen haben wenig daran geändert. Seit Kriege nicht nur in Videospielen sondern auch in der medienwirksamen globalen Realität per Mausklick vom sicheren Schreibtisch aus geführt werden, macht Gewalt offensichtlich viel mehr Menschen Spass. – Gewalt als das Erlebnis persönlicher Macht, das zu einem erhöhten Selbstwertgefühl des frustrierten Sekundärselbst führt.

Dr. Kurt Eugen Schneider
Dr. Kurt Eugen Schneider

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