Mein Primärselbst- / Sekundär-Selbst modell

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Meine Theorie über das Selbst 

These:
Das Primärselbst entspricht dem eigentlichen Wesen – der «Seele» -, bevor es durch das über die Sozialisation sich formende Sekundärselbst verfremdet wird.


Der entscheidende Motor für diesen entwicklungsgeschichtlichen Quantensprung bilden kognitiv-abstrakte (digital-sequentielle) Denkprozesse. Diese gewinnen gegenüber dem «gedankenlosen» bzw. dem averbal-bildhaften «Denken» (analogen) des Primärselbst immer grösseren Einfluss.

Der Bezug zur Seele, als dem eigentlichen Wesen, passt zweifellos nicht ins Bild der momentanen Forschung. Ohne mich auf weltanschauliche Diskussionen einzulassen, möchte ich aber an diese über Jahrtausende in allen Kulturen wahrgenommenen Entität festhalten. Sie enthält für mich insbesondere auch die Qualität Leben, ein Umstand, auf den ich bereits aufmerksam gemacht habe. 

Das Primärselbst

Unter dem Primärselbst verstehe ich ein authentisches, ursprüngliches Selbst, aus dem – sozialisationsbedingt – ein sekundäres Selbst hervorgeht. 

Beim Primärselbst handelt es sich nach meiner Auffassung um einen Zustand, der zu einem entwicklungsmässig sehr frühen Zeitpunkt, d. h. intrauterin, pränatal initiiert wird. Auf Grund der Erkenntnisse der modernen Säuglingsforschung sowie meiner Kenntnisse des östlichen Denkens postuliere ich eine aperspektivische, intrauterine Erfahrungswelt des noch in der Gebärmutter ruhenden Wesens. Ich beschreibe diese Stufe in Anlehnung an NAGEL als aperspektivisch,als «View from nowhere».

Diese «Sicht» ist durch Abwesenheit des visuellen Erlebniskanals gekennzeichnet; den taktil-kinästhetischen und auditiven Wahrnehmungen kommt damit ein besonders hoher Stellenwert zu.

DORNES bemerkt dass «bereits intrauterin akustische Zeichen mit bemerkenswerter Genauigkeit wahrgenommen werden»; die mütterliche Stimme werde daher unmittelbar nach der Geburt bevorzugt wahrgenommen.

Der Fötus macht sich mit grosser Wahrscheinlichkeit über das Gehör nicht nur eine «Vorstellung» über die Gestimmtheit seiner Umgebung, sondern vermag auch – über die verschiedenen Abfolgen von Klängen – Informationen zur zeitlichen Folge von bestimmten Ereignisse zu gewinnen.

Das Gebärmutterwesen im Zustand des Primärselbst lebt in seiner weitgehend schwerelosen und aperspektivischen Welt ganz auf die Gegenwart bezogen. Über hormonelle und physiologische Einflüsse, die mütterliche Gefühle beim Fötus auslösen wird dieser aber bereits intrauterin beeinflusst. (im Sinne eines frühen Tuning beziehungsweise des Gefühls«raubes», wie aus Untersuchungen durch VIRGINIA DEMOS hervorgeht).

Mit der Geburt wechselt die aperspektivische Wahrnehmung des Gebärmutterwesens über in die bildhafte Wahrnehmung des zunehmend visuell aktiven Säuglings. Ich bezeichne diese Phase als die analoge Stufe.Das Selbst dieser Stufe gleicht der Erfahrungswelt des von DORNES beschriebenen kompetenten Säuglings, der nicht, wie lange angenommen, symbiotisch mit seiner Mutter verbunden ist, sondern sich als sensomotorische (und psychisch) ganzheitliche Entität erlebt.

Die mentale Vorstellungswelt bis hin zu abstraktem Denken sind auf dieser Stufe noch nicht entwickelt, die ganzheitlich gegenwärtige Bilderwelt bestimmt das Erleben. Mit dem Auftreten der «Selbst»-Erkenntnis (»ich bin») könnte von einem präsozialisierten «Primär-Ich» gesprochen werden.

Die Erfahrungswelt des primären Selbst bleibt dem Säugling solange erhalten, als er noch nicht durch den Sozialisationsprozess von sich entfremdet ist.

In dieser Zeit fühlt er sich, ähnlich wie anlässlich der aperspektivischen Phase in der Gebärmutter, noch im Einklang mit seiner Umwelt, im Zustand des Urvertrauens. Nach METZINGER ist eine wesentliche Eigenschaft dieses «primitiven» analogen Zustandes seine körperbezogene Gegenwärtigkeit.

Das Abwesende existiert nicht; was ist, ist. Für ihn gehört zur «analogen Repräsentation» die «Simulation von Strukturen der weltlichen Dinge», die sich durch ihre Ähnlichkeit, aber eben nicht durch die unmittelbar echte Repräsentation dieser Dinge auszeichnet. In meinem Verständnis handelt es sich allerdings bei letzterem um mental erzeugte Vorstellungen, also genau um das, was für mich einem echten Hier-und-Jetzt-Erlebnis widerspricht. 

Das Sekundärselbst 

Die digitale Stufe des sozialisierten Erwachsenen

Auf das Primärselbst, das vertrauensvoll «in der existentiellen Liebe badet», auf den Säugling in Zustand des Urvertrauens beginnen sich früh Sozialisationseinflüsse auszuwirken. Verschiedene Überlebensstrategien sowie ein «Trieb zur Vernunft und zum Denken» bestimmen zunehmend das Geschehen. Dass sich hinter dem neutralen Begriff «Überlebensstrategie» ein emotional stark belasteter Zustand, nämlich die Angst und insbesondere deren Grundform, die Todesangst, versteckt, ist in unserem Zusammenhang von fundamentaler Bedeutung.

Diese Angst ist es denn auch, die in Kombination mit dem elterlichen Liebesentzug – Angst und Liebesentzug sind letztlich nur zwei Seiten derselben Medaille – das Sekundärselbst entscheidend mitbestimmt, ja geradezu definiert. 

Das Kleinkind begegnet jetzt einer bipolaren Welt des Entweder-oder, die in positiv und negativ, in vorher und nachher, oben und unten etc. aufgeteilt ist. Insbesondere das Zeiterleben verändert sich vom unmittelbaren Gegenwartsbezug des Primärselbst hin zu einer horizontal bestimmten Zeitachse: Das Sekundärselbst bezieht sich beinahe ausschliesslich auf ein von der Vergangenheit in die Zukunft verlaufendes und damit von diesen beiden Blickrichtungen stark beeinflusstes Zeiterleben.

Interessanterweise unterscheiden sich die beiden Gruppen auch in bezug auf ihre Gefühlswahrnehmung: Wer im Hier und Jetzt lebt, empfindet starke Gefühle, wer auf Distanz zu seiner unmittelbaren Raum-Zeit-Situation geht, nimmt seine Gefühle entsprechend dissoziiert, das heisst abgetrennt von sich selber, wahr. Diese Menschen tendieren zum Rationalisieren und zu weniger intensiven Gefühlsregungen und damit zu einem Verhalten, das unsere «coole» Gesellschaft wertschätzt. 

Aus dem bisher Dargestellten ergibt sich, dass das sekundäre Selbst, das sich auf Grund von entwicklungsgeschichtlichen Auswahlprozessen – die von der Gesellschaft unterstützt und über subtilen elterlichen Druck, der Befürchtungen des Liebesentzuges weckt, gefördert werden – herausbildet, allmählich die Erinnerung an das Primärselbst verdrängt. Der Übergang vom analogen, averbalen Bilderdenken hin zum digitalen, kognitiv abstrakten Denkenbildet dabei einen entscheidenden Faktor. 

Aber auch die eng mit der Körperwahrnehmung verknüpften Emotionen sind, wie wir eben gesehen haben, von diesem Prozess betroffen. Sie sind der willentlichen Lenkung nur beschränkt zugänglich und damit ein ausgesprochener Störfaktor für die Sozialisierung. Wenn ich von den Eltern nicht um meinetwillen, so wie ich bin, sondern nur meiner Leistungen wegen geliebt werde, passe ich mich an deren Ansprüche an, entwickle ich ein Sekundärselbst und trenne ich mich zunehmend vom Primärselbst.

Um den Primärschmerz wie auch den aus Kränkungen resultierenden psychischen Sekundärschmerz nicht zu spüren, entwickelt das Selbst Strategien in Form der Verdrängungskaskade, die sich aus Sekundärgefühlen und Ersatzhandlungen zusammensetzt.

«Entkörperlichung» und Vergeistigung 

Das Ersetzen der Erfahrungswelt des Primärselbst durch die Strategien des Sekundärselbst führte zu einer folgenreichen Entfremdung der Menschen von ihrem Körper. Die ursprüngliche Körperbasis wurde im Verlauf der Sozialisation durch ein scheinbar tragfähiges Netz aus Fremdeinflüssen, Gesetzen, Normen und Regeln – externe und internalisierte – ersetzt.

Mit zunehmender kultureller Differenzierung hat sich diese Entfernung von der Basis verstärkt. Damit sind wir aber unseres Fundamentes verlustig gegangen; durch den Verlust des Körperbezuges können wir die Informationen des Körpers und des Bauchhirns nicht mehr wahrnehmen. Damit entfremden wir uns von den echten Bedürfnissen und Gefühlen und letztlich von unserem wahren Wesen.

Dass das Sekundärselbst häufig – und in zunehmendem Masse – sowohl von Aussenstehenden, als auch von den Betroffenen selber, als «gespalten», «multipel» und widersprüchlich erlebt wird, ist im Grunde genommen äusserst realitätsgerecht und sinnvoll. Somatisierungen und psychische Störungen können als missglückter Versuch des Primärselbst verstanden werden, auf den nur noch indirekt «gefühlten» und über die «Entkörperlichung» verdrängten Urschmerz hinzuweisen. 

Je mehr wir in Beziehung zum Körper treten, indem wir die einseitige Betonung der Ratio rückgängig machen, desto mehr kommen wir «nach Hause» im Sinne eines klar fassbaren, persönlichen und in zunehmendem Masse verlässlichen Referenzpunktes. Nicht nur finden wir dadurch zurück zu einer stabilen selbst-ständigenAusgangsposition; diese bodenständige Referenz ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir uns, und insbesondere auch unseren Körper, uneingeschränkt zu lieben vermögen. 

Dass mit dem altersbedingten Zerfall dieser Körperbasis die Vergeistigung im Sinne einer entwickelten Spiritualität zur Lebensaufgabe werden kann, ist zweifellos auch eine existentielle Frage. Nur ist es gefährlich zu versuchen, den Reifungsprozess zu beschleunigen, indem wir den grundlegenden ersten Schritt überspringen.

Zurück zum Primärselbst über Individuation und Überstieg 

Eine Möglichkeit des Erwachsenen, die beiden Selbstzustände (Primärselbst sowie Sekundärselbst) miteinander zu verbinden, ergibt sich im Prozess des Überstiegs zwischen Haupt- und Zenrealität respektive zwischen dem Zustand des Sekundärselbst und dem des bewussten Primärselbst.

Allerdings ist dieser Überstieg an wichtige Voraussetzungen gebunden: Als Erwachsener muss ich unabdingbar den Preis der Sozialisation – die Erfahrungen des Sekundärselbst – bezahlen. In aufwendiger «Arbeit am Selbst» muss ich – auf der Ebene des Sekundärselbst – in einem weiteren Entwicklungsschritt, dem bewussten Individuationsprozess nach C. G. JUNG, beziehungsweise, spirituell gesehen bis hin zur Erfahrung des «Nicht-Ich», den Kern meiner «Persönlichkeit» wiederfinden. 

Doch die Bedingungen für den Überstieg sind hoch gesteckt und weit vom gesellschaftlichen Ideal entfernt. Für die überwiegende Mehrheit der Menschen stehen sie kaum zur Diskussion; nicht nur deshalb, weil für sie die notwendigen Voraussetzungen (noch nicht respektive nicht mehr) vorhanden sind, sondern auch, weil viele Menschen im Primärselbst höchstens einen primitiven Zustand romantisch-nostalgischer Regression sehen. 

Trotzdem bin ich der Ansicht, dass wir sowohl als einzelne wie auch als Kollektiv keine andere Wahl haben, als diesen beschwerlichen Weg zu gehen und bewusst die Verbindung mit dem Ursprung wiederherstellen, wenn es uns gelingen soll, die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen aufzuhalten.

Damit anerkennen wir Prioritäten, wie sie ohnehin in unseren neuralen Schaltnetzen vorgegeben sind. Mit der zunehmenden Bedeutung von virtuellen Apparaten, die biologisch integriert werden, besteht aber die Gefahr, dass diese Jahrmillionen alte Verankerung, die bereits durch die Sozialisation gestört ist, noch ganz verlorengeht; eine lieb- und seelenlose Welt wäre die Folge. 

Primäre Grundgefühle und sekundäre Ersatzgefühle

These:
Die Gefühle von Primär- resp. Sekundärselbst sind nicht dieselben. Primärgefühle kommen aus dem Körper, Sekundärgefühle aus dem Kopf, das heisst aus der mentalen Vorstellungswelt.

Da sich das Primärselbst deutlich vom Sekundärselbst unterscheidet, ist es naheliegend, dass auch die Gefühle der beiden Selbstzustände differieren. Dabei ist es allerdings nicht nur auf der Ebene des Primärselbst möglich, Primärgefühle zu empfinden. Auch auf der Ebene des Sekundärselbst vermögen wir Primärgefühle wahrzunehmen; der Zugang ist aber meist erschwert, oder wir nehmen sie nicht einmal bewusst wahr. 

Was bedeutet das konkret? 

«Das Leben des Körpers ist ein Leben der Empfindungen und Emotionen. Der Körper empfindet wirklichen Hunger, wirklichen Durst, wirkliche Freude in Sonne oder Schnee, wirkliches Vergnügen beim Duft von Rosen oder im Anblick eines Fliederbusches; aber auch echten Zorn, echten Kummer, echte Zärtlichkeit, echte Wärme, echte Leidenschaft, echten Hass, echte Gram.

All diese Emotionen gehören zum Körper und werden vom Verstand nur registriert» Dieses Zitat von D. H. LAWRENCE bringt die Primärgefühle auf den Punkt: Es beschreibt den Ersatz der reinen Körperwahrnehmung durch die verstandesmässige Verarbeitung. 

Weil die Wahrheit der Körperempfindung durch die Sozialisation der vorgefassten Meinung des Verstandes weichen muss, ist unser gefühlsmässiges Empfinden häufig «aus zweiter Hand». Dieses Empfinden hat nur noch wenig Bezug zum körperlichen Menschen; es ist anonym geworden und durch Gesetzgeber und Meinungsbildner wie Werbung, Medien und Moden manipuliert. Im Gegensatz zu den Primärgefühlen des Primärselbst, so wie sie LAWRENCE beschrieben hat, sind die Sekundärgefühle des Sekundärselbst «input-unabhängig». Sie sind ihrer Unmittelbarkeit beraubt und häufig durch starke Einflüsse aus dem Unbewussten – durch Verdrängtes – verändert.

Die Gefühle ganz vom Körper abzutrennen ist aber unmöglich. Bereits WILLIAM JAMES hat darauf hingewiesen, dass eine vollständig entköperlichte menschliche Emotion eine Fiktion ist.

Mit anderen Worten: Was die Sekundärgefühle an Intensität eingebüsst haben, «gewinnen» sie an Komplexität und Undurchsichtigkeit. Die zeitliche Verzögerung, die sich über die sekundären Erregungsschleifen – die sich im Bereich des Neuhirns abspielen – ergeben, bringt es mit sich, dass diese Gefühle häufig ambivalent sind und zu inadäquatem Handeln oder gar zur Handlungunfähigkeit führen. 

FÜR ANTONIO DAMASIO besteht der entscheidende Unterschied darin, dass zu den Primärgefühlen neu hypothetische, das heisst mit Vorstellungen verknüpfte bewusste Überlegungen aus dem Denkprozess hinzukommen. Generell sieht er in der Möglichkeit, dass Gefühle eng mit dem Denkprozess verknüpft sind, grosse Vorteile für die menschliche Entscheidungsfähigkeit. Für ihn gibt es zwar pathologische Störungen des Selbst, sie beziehen sich aber unmissverständlich auf das Selbst des sozialisierten Erwachsenen, das ich als Sekundärselbst bezeichne. 

Vernetzung alter Erfahrungen mit neuen Reizen

Der Sozialisationsdruck führt dazu, dass sich die somatischen Marker ausbilden, die neue Reize mit alten Erfahrungen und insbesondere auch mit deren emotionalen und körperlichen «Erinnerungen» vernetzen:
«Auf neuronaler Ebene hängen somatische Marker vom Lernen in einem System ab, das bestimmte Kategorien von Objekten oder Ereignissen mit der Entfaltung eines angenehmen oder unangenehmen Körperzustandes verknüpft. … Das entscheidende neuronale System für den Erwerb des Signalapparates der somatischen Marker sind die präfrontalen Rindenfelder, die grossenteils auch das System für die sekundären Gefühle enthalten.» 

Die somatischen Marker arbeiten nicht ausschliesslich unter Miteinbezug des Körpers. Dieser kann auch umgangen werden, nämlich dann, wenn die somatosensible Gehirnrinde so arbeitet, als obsie Signale über einen bestimmten Körperzustand empfangen würde. DAMASIO vermutet:
«Da wir in Säuglingsalter und Kindheit auf die uns umgebenden sozialen Verhältnisse ‹eingestimmt› worden sind, dürften die meisten unserer Entscheidungsprozesse durch somatische Zustände geprägt sein, die mit Bestrafung und Belohnung zu tun haben. … Mit dem Älterwerden … entwickelte sich eine neue Ebene energiesparender Automatisierung.

Teilweise wurden die Entscheidungsstrategien von ‹Symbolen› somatischer Zustände abhängig. In welchem Umfang wir uns auf solche ‹Als-ob›-Symbole statt auf die realen Zustände verlassen, ist eine wichtige empirische Frage. Ich glaube, diese Abhängigkeit schwankt von Mensch zu Mensch und von Situation zu Situation. Symbolische Verarbeitung kann je nach Situation und Umständen vorteilhaft oder schädlich sein.»

In unserem Zusammenhang interessieren die Ausführungen METZINGERs über die zentrale Bedeutung des Körperbezuges im Rahmen seines Selbstmodelles:
«In normalen Wachzuständen sind wir immer schon, vom ersten Moment des Aufwachens bis zum Einschlafen, verkörperte Erlebnissubjekte.

Die Bedeutung des Körpergefühls

Das heisst: Wir sind uns in einer ganz bestimmten Art und Weise, nämlich durch unser Körpergefühl, gegeben. … Durch diese besondere Situation – die Verankerung interner Signalerzeugung – wird das Selbstrepräsentat zu einem der stabilsten und konstantesten Elemente der phänomenalen Realität, weil es der zuverlässigste Teil unseres multimodalen inneren Bildes von uns selbst ist. Auch wenn wir nicht denken, keine Gefühle haben und uns nicht bewegen: Die permanente Signalquelle, auf der unser Körpergefühl beruht, stellt ihre Aktivität nicht ein – wir sind uns ‹immer schon› als leibliche und verkörperte Wesen gegeben.

In komplexe mentale Simulationen geht es (das Körpergefühl) normalerweise nicht ein. Andererseits ist es eng verknüpft mit einer phylogenetisch sehr alten Klasse von mentalen Modellen, deren Auftreten deutlich mit Aktivitäten des limbischen Systems korreliert ist.

Sogar ein Philosoph räumt also ein, dass der Körperbezug, auch wenn die entscheidenden und «höheren» seiner mentalen Selbstmodelle und -welten durch innere Vorstellung initiiert werden, von fundamentaler Bedeutung für die Stabilisierung dieser Modelle ist.

 Für Wissenschafter unterscheiden sich vorgestellte Gefühle nicht von durch reale Stimuli ausgelösten. In Übereinstimmung mit LAWRENCE bin ich aber der Ansicht, dass wir als einzelne Menschen alles daran setzen müssen, um dem allgemeinen Trend – der in der Verwischung der Grenzen zwischen realen und virtuellen Welten sein Heil sucht – entgegenzutreten. Geben wir den Körperbezug auf, «so öffnen wir Tür und Tor für jene grassierende Beliebigkeit, die unseren Alltag zum virtuellen Tollhaus werden lässt». 

Der Körper zeigt den Gefühlsbereich an

Ein Hinweis darauf, in welchem Gefühlsbereich wir uns gerade bewegen, ergibt sich auch aus den Worten, die wir benutzen, und aus der Art, wie wir sie mitteilen: Körpernahe, in ruhiger Bezogenheit ausgesprochene Wörter gehören eher zum Primär-, kopflastige argumentativ verkündete Sachwörter zum Sekundärbereich. 

Da Primärgefühle eng mit der spontanen Reaktionsbereitschaft des Körpers verknüpft sind, ist die Freiheit zur unkontrollierten, spontanen Körperreaktion absolute Voraussetzung dafür, sie erleben zu können. Haben wir unseren Bewegungsapparat mit dem von WILHELM REICH beschriebenen Charakterpanzer gebändigt, so werden Gefühle, vom Körper völlig losgelöst, als Abwehr und Charaktermaskierung eingesetzt.

Die Mimik ist zur Maske erstarrt, die Bewegungen sind steif und künstlich. Echt und artifiziell, vital und virtuell werden nicht mehr auseinandergehalten, wir nehmen die Sekundärgefühle «für bare Münze».

Im Gegensatz zur «Wahrnehmung aus zweiter Hand», führen Primärgefühle, sofern sie nicht bewusst erlebt werden, praktisch immer unmittelbar zu einer Handlung: Wir beziehen uns auf jemanden, drücken unsere Zuneigung oder Abneigung aus, gehen auf jemanden zu oder wenden uns ab.

«Sekundärgefühle sind Ersatz für Handeln. Weil sie den anderen überzeugen sollen, dass man nicht handeln kann, müssen sie übertrieben und dramatisiert werden. Der, der sie hat, fühlt sich schwach, und auch die anderen, die präsent sind, fühlen sich schwach und aufgerufen, etwas zu tun, merken aber, dass sowieso nichts hilft.» 

DIANA RICHARDSON trifft eine ähnliche Einteilung zwischen Primär- und Sekundärgefühlen, wie ich sie vorgenommen habe, auch wenn sie sich nicht auf verschiedene Selbstwahrnehmungen bezieht. Primärgefühle nennt sie «feelings», Sekundärgefühle «emotions», ohne sich dabei aber auf verschiedene Selbstzustände zu beziehen.

Die wesentlichsten Unterschiede
von Primär- zu Sekundärgefühlen

Primärgefühle

∙ Kontext des Primärselbst
∙ Körperbezug, handelnd
∙ Unmittelbare «Input»-Realität

∙ «Feelings» nach Richardson
∙ In prägnanten Wirkwörtern ausgedrückt

∙ Auf die Gegenwart bezogen
∙ Unmittelbarer Ausdruck, spontan

∙ Kontext der Seinsliebe und
der primären Erregungsliebe

Sekundärgefühle

∙ Kontext des Sekundärselbst
∙ Mentaler Bezug, Vorstellung
∙ Virtuelle, körperunabhängige
«Als-ob»-Realität
∙ «Emotions» nach Richardson
∙ Abstrakter Sachbezug

∙ Vergangenheit und Zukunft wesentlich
∙ Immer wieder «abgerufen», «festgefahren», «konsistent»
∙ Kontext der Zweckliebe und der sekundären Erregungsliebe

Dr. Kurt Eugen Schneider
Dr. Kurt Eugen Schneider

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