Kurt Schneiders Gefühlsmodell

K

Mein Gefühlsmodell setzt sich aus fünf Bausteinen zusammen. Darauf aufbauend werde ich schrittweise anhand von Schemata den Übergang von der physiologischen Reflexreaktion zu psychischen Reaktionen darstellen. Zusätzlich gilt es, die vier Ebenen, auf denen sich Gefühle abspielen können, zu berücksichtigen. 

fünf Bausteine der Gefühle

Seinsliebe
Erregungsenergie
Psychischer Schmerz
Fight-or-Flight
Sozialisation  

Beim Menschen sind instinktmässige Verhaltensweisen, wie sie sich bei Tieren nachweisen lassen, zu einem grossen Teil durch vernünftige, das heisst intellektuell abgeleitete Entscheidungen ersetzt. Ergänzend zum instinktiven und logischen Verhaltensrepertoire verfügen wir über ein ausgedehntes Gefühlssystem, das nicht nur als Brücke Instinkt und Logik verbindet, sondern auch von beiden gewisse Eigenheiten übernommen hat.

Mit den Instinkten teilt das Affektsystem reflexmässige Abläufe. Die zunehmende Kortikalisierung hat, im Interesse einer besseren Steuerung der Emotionen, Verzögerungsmechanismen eingebaut, die eine vorgängige Evaluierung der Gefühlslage erlaubt, das, was wir mit sozialer Kompetenz und emotionaler Intelligenz umschreiben. 

Unter diesem Überbau von Entscheidungswegen verläuft als Grundmuster und gleichzeitig als Motor und Motivator der psychische Energiehaushalt. Wie jeder lebende Organismus ist auch der Mensch eingebettet in Rhythmen von wechselnder Aktivität, das heisst, dass Phasen mit niederem Energieniveau mit Phasen von erhöhtem Niveau abwechseln. 

1. Seinsliebe – Ruhezustand im Gleichgewicht

Entsprechend gehe ich von einem basalen Ruhezustand, einem homöostatischen Gleichgewicht, aus. Diesen Basiszustand der psychophysischen Befindlichkeit bezeichne ich als Seinsliebe.

These:
Es gibt einen homöostatischen Basiszustand der psychophysischen Befindlichkeit, den ich als Seinsliebe bezeichne. 

  

Wesentliche Qualitäten von Seinsliebe

✧ Offenheit

✧ Kritiklosigkeit (nicht wertend)

✧ «Naives Staunen»

✧ Zeitlosigkeit (es gibt nur das Sein im Hier und Jetzt, ohne Vergangenheit und Zukunft)

✧ Raumlosigkeit und Durchlässigkeit (Leere)

✧ Erfahrung der Freiheit und Unabhängigkeit

✧ Eutoner Körperzustand

✧ Zärtlichkeit

✧ Aperspektivische Erfahrungswelt

✧ Ozeanisches Gefühl

✧ Averbaler, bildhafter Prozess

✧ Zufriedenheit (erwartungslos)

✧ Harmonisch pulsierende Schwingungen (Glücksgefühl als Ausdruck der Hingabe an die Seinsliebe)

2. Die Erregungsenergie

Biologisch gesehen entspricht sie der Lebenskraft, nach der Geschlechtsreife vor allem der Fortpflanzungsenergie. Unbewusst manifestiert sich die Erregungsenergie in der Form von harmonischen Pulswellen oder plötzlichen Gefühlsgipfeln und deren Kombinationsmöglichkeiten. 

Das Kernelement der Gefühle ist Energie. Dieser Gefühlsenergie kann ich, solange ich mich mit den Vorzeichen identifiziere, Ausdruck geben, indem ich sie lebe: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, beglückt, melancholisch …

Die Bewertung dieser Energie – deren positiver oder negativer Aufkleber – verliert ihre Bedeutung im Moment, da ich in meditativer Distanz meine Energie nicht in jugendlichem Tatendrang nach aussen richte, sondern mich in der Erkundung der inneren Welt verwirkliche. 

Im Gegensatz zu gängigen Gefühlstheorien gehe ich grundsätzlich von der Möglichkeit aus, dass Gefühle nicht nur unmittelbar auf ein Gegenüber oder auf das Erreichen eines persönlichen Zieles ausgerichtet und nicht nur Mittel zur Entwicklung von immer effizienteren Überlebensstrategien sind, sondern dass Emotionen auch als reines Energiephänomen in uns «aufsteigen können», ja dass, wie ich das für das Entstehen der primären Erregungsliebe postuliere, das zentrale Grundgefühl auf eine von aussen unter Umständen völlig unabhängige Weise entsteht. 

Im Kontext der Meditation gesehen sind uns drei immer tiefer, das heisst immer weiter ins Unbewusste vorstossende Wahrnehmungen möglich, die es erlauben, zu den Gefühlen Distanz zu gewinnen und sie als reines Energiephänomen zu empfinden. Diese Distanz beinhaltet, dass ich nicht mehr völlig durch sie in Beschlag genommen werde und dass ich nicht mehr zwangsmässig von ihnen abhängig bin.

3 Schritte ins Unbewusste

Ich nehme wahr, wie fremdbestimmt die Mehrzahl meiner Gefühle ist.

Jeder Mensch hat im Laufe seiner Sozialisierung die Tendenz, gewisse gefühlsmässige Verhaltensmuster von anderen, vorwiegend von seinen unmittelbaren frühen Bezugspersonen, zu übernehmen. DANIEL STERN und VIRGINIA DEMOS haben im Zusammenhang mit dem Tuning und der affektiven Kompetenz des Säuglings aufgezeigt, wie diese frühen «Gefühlsübertragungen» vor sich gehen.

BERT HELLINGER deckt in seinen Familienaufstellungen eine ausserordentlich wirkkräftige Form der Gefühlsübernahme von Vorfahren im System auf. Ich werde immer wieder darauf zu sprechen kommen. Das Sichtbarmachen dieser Übertragungsmechanismen entspricht einem Wahrnehmungsprozess. 

Ich stosse zu meinen im Unbewussten liegenden, durch Verdrängung bedingten Gefühlsquellen vor.

Die Aufdeckung der Gefühle, d. h. das Vordringen zu meiner eigenen, verdrängten Gefühlsquelle, erfordert zusätzlichen Mut (oder Leidensdruck), weil diese unbewussten Gefühlsquellen immer mit psychischen Schmerzerlebnissen und damit mit heftiger Angst und/oder Wut verknüpft sind. Wären diese Erfahrungen nicht so existentiell unangenehm, hätten wir auch keinen Grund gehabt, sie zu verdrängen. 

Ich löse mich von der Identifizierung mit meinen Gefühlsäusserungen und nehme sie dadurch als Energiephänomene wahr.

Diese «Objektivierung» bezieht sich sowohl auf deren fremdbestimmten Auslöser, der als Introjekt auch in meiner Psyche verankert sein kann, als auch auf den unmittelbaren, häufig reflexartig ausgelösten Verhaltensausdruck. Jetzt sind die Voraussetzungen gegeben, um auch die dritte und letzte Stufe erleben zu können.

Erst wenn ich mich mit dem Verdrängten und den damit verbundenen Gefühlen auseinandergesetzt habe, bin ich bereit, Gefühle unverzerrt, ohne vorgefasste Meinungen als Energiephänomene zuzulassen, das heisst, ich erlebe die «energetische Aufladung» körperlich, ohne dass ich sie noch zusätzlich über eine Kategorisierung oder Wertung benennen muss.

Die Energie der Erregungsliebe

Bei diesem schrittweisen Vorgang der Demystifizierung der Gefühle kommen wir dem Eigentlichen, dem «Rohstoff», schrittweise näher: der Energie der Erregungsliebe.

Steigt nun die psychophysische Energie, aus welchen Gründen auch immer, an, so empfinden wir ein Erregungsgefühl, das ich als Erregungsliebe bezeichne. Diese entspricht einer Übersetzung der körperlichen Lebensenergie in eine Wahrnehmungsform, die wir unmittelbar empfinden können. Gleichzeitig teilen wir über den Gefühlsausdruck unseren Erregungszustand auch den Mitmenschen und allen mit uns in bezug stehenden Lebewesen sichtbar mit. 

Spürbewusstsein und Meditation
sind Wege zu verlorengegangenen Grundgefühlen

Um mit dieser Lebenskraft, über die wir uns verwirklichen, deren Zugang aber durch die Sozialisierung weitgehend verschüttet ist, wieder vertraut zu werden, sind in den vergangenen Jahrzehnten neue Methoden entwickelt beziehungsweise alte Methoden neu entdeckt worden: z. B. Sensory Awareness (Spürbewusstheit) nach CHARLES BROOKS, Spürbewusstsein nach PETER SCHELLENBAUM und insbesondere eine im Osten seit Jahrtausenden ununterbrochen gepflegte, aber auch im Westen geübte Wahrnehmungsform, die Meditation.

Diese Techniken eröffnen Wege, um wieder mit den in der Hetze des Alltags verlorengegangenen Grundgefühlen in Kontakt zu treten.

These:

Das «positive» Grundgefühl ist die primäre Erregungsliebe. Sie zeigt sich immer dann, wenn die im Grundzustand der Seinsliebe akkumulierten «überschüssigen» Energien lustvoll durch den Körper ausgedrückt werden. Biologisch gesehen entspricht sie der Lebenskraft, nach der Geschlechtsreife vor allem der Fortplanzungsenergie. Unbewusst manifestiert sich die Erregunsenergie in der Form von harmonischen Pulswellen oder plötzlichen Gefühlsgipfeln und deren Kombinationsmöglichkeiten.

3. Der Psychische Schmerz

In einem Artikel über den gestörten Verlauf der Gefühlsentwicklung werde ich diese grundlegende Reaktion auf eine Störung des homöostatischen Ruhezustandes oder des energetischen Ausdrucks ausführlich darstellen.

4. Das Flight-or-Fight System

Ich beschreibe diese «primitive» Gefühlsmodifikation auf Grund von – auch im Tiersystem verbreiteten – Reaktionsmechanismen ebenfalls in einem späteren Fachartikel über die physiologischen Grundlagen zur gestörten Gefühlsfunktion.

5. Die sozialisation

Die damit verbundenen «höheren» Gefühlsmodifikationen und psychischen Abwehrmechanismen sind gesellschaftlicher Art. Mehr darüber in einem späteren Fachartikel.

Die Entwicklung der 5 Bausteine
in Bezug auf die Gefühlsebenen

4 Gefühlsebenen ⇥
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5 Bausteine
Körperebene
Hauptebene
Primäre psychische EbeneSekundäre psychische Ebene
Hauptebene
Spirituell-religiöse Ebene
1. Grundform der LiebeSeinunbewusste SeinsliebeZweckliebebewusste Seinsliebe
2. Grad der Energie / ErregungEnergie
(Sexual-)Erregung
primäre Erregungsliebesekundäre Erregungsliebe
Fantasie, Ersatz
Energie-Wahrnehmung
Tantra, Ekstase
3. SchmerzformenGewebeschaden
–> KörperSchmerz
Liebesentzug
–> psychischer Primärschmerz
Kränkung psychischer SekundärschmerzKörperschmerz; psychische Schmerzen werden durchschaut
4. Kampf-/ Flucht ReflexVerletzung / Bedrohung
–> Kampf
–> Flucht
psychische Primärwut

psychische Primärangst
psychische Sekundärwut
(Hass, Gewalt)
psychische Sekundärängste
bewusster Überstieg als Option
5. Fortschreitende SozialisationSozialisation Sozialisation ⥴Sozialisation ⥴

Die vier Ebenen des Gefühlsmodells

Zusätzlich zu den fünf Bausteinen der Gefühlsentwicklung unterscheide ich vier Ebenen, denen Gefühle grundsätzlich zugeordnet werden können:

1. Die vorbewusste Körperebene

Erfahrungswelt aller Lebewesen

2. Die Ebene des Primärselbst

Postulierte unbewusste Erfahrungswelt des Säuglings und aller Wahrscheinlichkeit nach bereits des Fötus

3. Die Ebene des Sekundärselbst

Die Hauptrealität des sozialisierten Menschen

4. Die Ebene der Zenrealität

Die Nebenrealität des spirituellen Menschen, entspricht der bewussten Erfahrung des Primärselbst.

1. Die vorbewusste Körperebene 

Die Gefühle dieser Ebene stehen in unmittelbarem Körperbezug, der allerdings noch nicht bewusst wahrgenommen wird. Es handelt sich um reflexartige, archaische Reaktionsweisen, die auch bei Tieren nachgewiesen werden können. Im besonderen geht es dabei um die Äusserungen von psychischem Schmerz, Wut und Angst, aber auch um hingebungsvolles Paarungs- und Aufzuchtverhalten. Über die Nahrungsaufnahme – als natürlicher Form der «Einverleibung von Energie» – sowie über hormonelle und vielfältige physiologische Reize entwickelt sich aus dem homöostatischen Grundzustand heraus das ursprüngliche körperliche Grundgefühl, das ich als Erregungsliebe bezeichne.

Neben diesem positiven Körpergrundgefühl gibt es negative  körperliche Grundgefühle wie den Körperschmerz, der reflexiv im Bewegungsapparat durch Angriff oder Flucht beantwortet wird. Mehr im Bereich des Verdauungsapparates wirken Hunger und Übelkeit (mit dem Brechreiz als besonders drastischem Körperreflex).

2. Die Ebene des Primärselbst

Dies ist die präsozialisierte, psychophysische Ebene mit leib-seelisch empfundenen Gefühlen; die Seinsliebe und die primäre psychische Erregungsliebe gehören hierher. Es muss angenommen werden, dass nicht nur der Säugling, sondern bereits der Fötus dieser Ebene zuzuordnen ist. 

Wie auf der ersten Ebene sind die Beziehungen zum Körper noch sehr eng: Die Gefühle hängen eng mit unmittelbarem Erleben auf der Sinnesebene (taktil-kinästhetisch, auditiv, olfaktorisch, gustatorisch und nach der Geburt in zunehmendem Mass visuell) zusammen. Sie werden körperlich erlebt und üblicherweise auch körperlich ausgedrückt. Ist dies möglich, so schliesst sich die Gestalt (FRITZ PERLS), das heisst, energetisch ist der Organismus danach wieder im Gleichgewicht, in der Homöostase der Seinsliebe

Zusätzlich manifestiert sich jetzt eine psychische Dimension. Die primäre psychische Erregungsliebe drückt sich neben dem Lachen auf verschiedene Weise in körperlich ausgedrückten Gefühlen der Lust und Freude, der lustvollen Näheempfindung sowie als generelle Bewegungslust aus.

Wir erleben sie als positiv, ebenso wie den ihr nahestehenden, mit dem Bedürfnis nach «Einverleiben» verbundenen Appetit. Als negativ empfinden wir die fünf psychischen Primärgefühle Hunger, Ekel, Schmerz, Wut und Angst, wobei die beiden letzteren Grundreaktionen auf psychischen Primärschmerz darstellen. Alle zeigen deutliche Auswirkungen auf der körperlichen Ebene.

3. Die Ebene des Sekundärselbst 

Hier finden wir den sozialisierten Menschen mit einem Ich-Bewusstsein, unter der Vorherrschaft des Rationalen. Seine Gefühle bezeichne ich als Sekundärgefühle.

Charakteristisch für diese Ebene ist, dass die Hier-und-Jetzt-Gefühlserfahrung zugunsten von Vorstellungen, vorgefassten Meinungen, Phantasien, Träumen und Wünschen verlassen wird; die Erfahrung wird in den Bereich des Neocortex verlegt, wir stellen uns etwas vor. Die Sekundärgefühle sind nur noch entfernt mit sensomotorischen Abläufen und vielfach untereinander verknüpft, so dass sich der Versuch, sie zu entflechten respektive zu entmischen, äusserst schwierig gestalten kann. 

Zusätzlich kommt es zu einer Abstrahierung dieser (jetzt digitalen) Vorstellungswelt. Gefühle entstehen nicht mehr spontan auf Grund einer harmonischen Energieanreicherung oder infolge äusserer Störungen. Wir kreieren Gefühle zunehmend selbst über unsere Wunschvorstellungen und Befürchtungen oder auch über Drogen und Medikamente. Der Hauptanteil der Energie wird durch unsere mentale Einstellung, durch die Identifikation mit unserem Ich, und nur zu einem kleinen Teil im Sinne des Auslösemechanismus von aussen oder innen bewirkt. 

Es wird Aufgabe des vierten Teils sein, Spezialformen wie den psychische Sekundärschmerz, die Kränkung (entsprechend einer Verletzung des Ich) sowie die daraus resultierenden Sekundärangste und die Sekundärwut näher zu beschreiben.

Dasselbe gilt für weitere, mit der zunehmenden Sozialisierung sich differenzierende, gesellschaftlich erwünschte und salonfähigere oder auch mehr oder weniger offensichtlich selbstzerstörerische «höhere» Verhaltensformen. Viele dieser Gefühle haben negative Auswirkungen, gelten aber trotzdem im Alltagskontext als normal bis erstrebenswert, ja aus psychologisch/psychiatrischer Sicht häufig als besonders erwachsen.

Der künstlerische Ausdruck kann als Übergangsphänomen betrachtet werden. Die Möglichkeit, durch Schauspielen «echte» Gefühle darstellen und im Zuschauer auslösen zu können, weist darauf hin, dass der Gefühlsausdruck enorm anpassungsfähig ist.

Je mehr sich allerdings der Protagonist auf sein Spiel einlässt, der Musiker in seiner Musik aufgeht und der Tänzer im Tanz verschwindet, eins mit dem Ganzen wird, desto unschärfer wird die Grenze zwischen scheinbar und echt. Wahrscheinlich zeichnen sich grosse Künstler gerade dadurch aus, dass sie nicht mehr den Anforderungen des Ich unterliegen sondern wieder – jetzt allerdings bewusst, im Sinne der Zenrealität – aus ihrem Primärselbst heraus wirken.

4. Die spirituelle Ebene 

Tiefenpsychologische Vorstufe 

C. G. JUNG hat sich eingehend mit östlichem Gedankengut beschäftigt. Dabei ist er auf das altindische philosophische Tantra-Yoga gestossen. In dessen Kundalinisystem erblickte er das Abbild einer schrittweisen seelischen Entwicklung, wie sie sich nicht nur in der Tiefenpsychologie, sondern auch in der Initiation in die vielfältigsten Mysterien nachweisen lässt. Vereinfacht ausgedrückt interpretierte JUNG das System des Kundalini-Yoga folgendermassen:

Üblicherweise befinden wir Menschen uns auf der Stufe des untersten 1. Chakras, Muladhara, das im Dammbereich lokalisiert ist. Dies entspricht in meinem Gefühlsmodell der dritten Ebene, der Ebene des Sekundärselbst.  

Begeben wir uns auf den Individuationsweg, gelangen wir zum 2. Chakra, Svadhishthana, das JUNG als «Wasserbereich», als Bereich des Unbewussten, interpretiert. Ein analoger Prozess geschieht bei einer rituellen Initiation wie beispielsweise der christlichen Taufe. Dieses Chakra entspricht dem unbewussten Leben, alles geschieht ohne reflektierendes Ich-Bewusstsein. Es entspricht der zweiten Ebene meines Gefühlsmodells, dem unbewussten Primärselbst

Früher oder später werden wir in der Weiterverfolgung des Prozesses (des tiefenpsychologischen Individuationsweges respektive des Kundaliniweges der tantrischen Yogi) im 3. Chakra, Manipura, unserem Schatten begegnen.

Dies ist das Zentrum heftiger und als besonders psychisch schmerzhaft erlebter Emotionen, schmerzhaft wohl auch deshalb, weil wir sie zum ersten Mal direkt, unter Aufhebung der Verdrängungsstrategien, ansehen. Gleichzeitig ist es der Ort unserer ungesättigten Leidenschaften, der «Hölle in uns selbst». Blinde Wut, unersättliche Gier und kopflose Ängste lassen uns nicht mehr zur Ruhe kommen.

Für JUNG ist es die «erste psychische Lokalisation». Diese Stufe bezeichne ich als tiefenpsychologische Vorstufe. Hier werden zum ersten Mal Gefühle in ihrer ganzen Tragweite wahrgenommen und besonders intensiv und konfliktreich erlebt. Diese Phase vermittelt eine zunehmend klarere Einsicht in die eigengeschichtlichen und familiären Zusammenhänge und möglicherweise auch in die genetischen Grundlagen des Ich. 

Die Seinsliebe ist im Brustraum beheimatet

Auch das 4. Chakra, das auf Herzhöhe lokalisierte Anahata, gehört für mich zur tiefenpsycholgischen Vorstufe. Symbolisch gesehen ist das der Ort, wo die Seinsliebe beheimatet ist. Für JUNG beginnt hier die bewusste Individuation, die Desidentifizierung von den Emotionen, das Erkennen von übernommenen Werten und Ideen. Hier verwandelt sich das selbstbezogene Ich der unteren drei Stufen in ein «höheres Selbst», in meiner Terminologie in das – mehr oder weniger bewusste Primärselbst. 

Während im Bereich des dritten Chakras Gefühle noch objektstufig erlebt werden, beschreibt JUNG das letzte von ihm noch ausführlich diskutierte 5. Chakra, Vishuda im Kehlkopfbereich, als subjektstufig. Das bedeutet, dass ich die Sekundärgefühle als Projektionen zu erkennen vermag und die Verantwortung für deren «Verursachung» übernehme und nicht den «anderen» zuschiebe. 

Die höheren Chakren (das sechste im Bereich des «dritten Auges» sowie das siebte, das Scheitelchakra) können für den westlich kultivierten Menschen nach JUNG zwar noch theoretisch diskutiert werden, sie seien aber persönlich kaum mehr nachvollziehbar, da hier das «höhere Selbst» durch das «Nicht-Ich» ersetzt und insbesondere mit der «All-Einheit» des Scheitelchakras Sahasrara ein Bereich postuliert werde, der «rein philosophisch» sei. 

Diesen beiden letzten Chakren ordne ich in meinem Modell die Ebene der Zenrealität zu.

Die Ebene der Zenrealität

Der vom Standpunkt der Hauptrealität aus gesehen nicht mehr nachvollziehbare Bereich der beiden höchsten Chakren ist der Bereich der Transzendenz, in der sich der Mensch weder mit dem Körper, noch mit den Gefühlen oder mit dem Verstand identifiziert, wo das «Nicht-Ich schliesslich im All-Eins aufgeht».

Nach meinem Dafürhalten handelt es sich beim 6. Chakra um die bewusste Erfahrung der Ebene des Primärselbst.

Im erweiterten transaktionsanalytischen Modell versuche ich, diesen Zustand anhand eines Schemas darzustellen, das auch aufzeigt, dass sich in der transzendenten Kommunikationsform nicht nur die Grenzen des Ich, sondern auch diejenigen des Primärselbst aufgelöst haben. Dieser Zustand entspricht dem 7. Chakra.

Die zenreale Ebene befindet sich ausserhalb der üblichen onto- sowie phylogenetischen Entwicklungsmuster. Diese Erfahrungswelt ist weder wissenschaftlich anerkannt noch präzise definierbar. Viele Menschen beschäftigen sich höchstens am Rande damit, allzu ungewohnt ist vor allem für den Homo oeconomicus alles, was mit Zuständen der Seele in Verbindung steht.

Trotzdem entspricht diese spirituelle Ebene einem Bereich, der gerade im Kontext der Gefühle eine bedeutende Stellung einnimmt. 

 Auf dieser Ebene sind die Sozialisationsprogramme, die zur Ausbildung des Sekundärselbst geführt haben, über die Meditationserfahrungen aufgedeckt. Dank der Möglichkeit des Überstiegs stehen sie aber dem in Meditation erfahrenen Menschen jederzeit zur Verfügung. 

Die negativen Gefühle auf dieser Ebene entsprechen den Grundgefühlen der Körperebene (Hunger, Übelkeit und psychischer Schmerz und Furcht). Da der spirituelle Mensch sich auf dieser Ebene nicht mehr mit seinem Körper und dessen Gefühlen identifiziert, nimmt er diese Grundgefühle bewusst wahr, lässt sie bewusst «einfach geschehen», weicht ihnen aus oder geht eine Bedrohung aktiv an, ohne dass die wahrgenommenen Gefühle reaktiv Angst, Wut und die ganze Palette von Verdrängungsgefühlen auszulösen brauchen. Im ganzheitlichen Zustand des Primärselbst besteht kein Grund für Sekundärgefühle im Zusammenhang mit Gesichtsverlust. 

Zweifellos ist es nur für Ausnahmemenschen möglich, hauptsächlich auf dieser Ebene zu verweilen. Für die Mehrheit der spirituell Interessierten entspricht die zenreale Ebene einer Nebenrealität, mit der sie mehr oder weniger vertraut sind und deren Erkenntnisse sie mehr oder weniger in die Hauptrealität (des sozialisierten Menschen) einfliessen lassen.

Die 4 Ebenen des Gefühlsmodells

  1. Die Körperebene (Hauptrealität)
  2. Die psychische Ebene des Primärselbst
  3. Die psychische Ebene des Sekundärselbst (Hauptrealität)
  4. Die spirituell-religiöse Ebene
4 Gefühlsebenen ⇥
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Kriterien ↧
1. Körperebene2. Psychische Ebene Primärselbst3. Psychische Ebene Sekundärselbst4. Spirituell-religiöse Ebene
Definierung von SelbstWesenPrimärselbstSekundärselbst
(Ich/Ego)
Nicht-Selbst
Wahrgenommene RealitätHauptrealitätNebenrealität
– pränatal
– Säugling
HauptrealitätZen-Realität
Kosmische Realität
Grad der Bewusstheitvorbewusstunbewusst«bewusst»bewusst
Wahrgenommene GefühleKörper-Empfindungpsychische Primärgefühlepsychische SekundärgefühleEnergie-Wahrnehmung
Dr. Kurt Eugen Schneider
Dr. Kurt Eugen Schneider

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